Buchtipp

Exzessive Zwillingsleben, oder: Wie erfinde ich mich selbst?

25. März 2008
von Börsenblatt
Roadmovie, Porträt einer aufbegehrenden Generation, Drama und High-Society-Klatschstory vereinen die Erinnerungen zweier Kasseler Zwillinge, die in die weite Welt ziehen, endlos suchen und doch nie finden. Permanent entwerfen sie ihr Leben neu.
“Du hast dich vorgedrängelt”, wirft Gisela ihrer erstgeborenen Schwester Jutta vor, ein Satz, der für die symbiotische Beziehung der Zwillinge steht. Nur das Anders-ich wird inmitten narzisstischer Selbstbespiegelung als ebenbürtig empfunden. 1949 als Jutta und Gisela Schmidt in Kassel geboren, verläuft ihre Kindheit ähnlich käseglockengeschützt wie die vieler Nachkriegskinder. Wäre da nicht ihr Gefühl des exceptionellen Auserwähltseins, das sie von den Niederungen des Alltags emporhebt. Sogar adelige Freunde hat man zu verzeichnen, von denen irgendwann einer den pubertären Lolitas an die Wäsche will, Heiratsversprechen werden gegeben – große Bühne. Bis die Zwillinge dann endgültig mit den Erwartungen an sie brechen und ihr Leben selbst formen wollen. “Kunststudentenpartys sind das Verruchteste, was ein Mädchen in Kassel um 1967 erleben kann”, heißt es in der Rückschau, und da wundert es nicht, dass sie mehr wollen. Die Zwillinge beleuchten die vielen Geschichten aus der jeweils eigenen Perspektive, und es zeigt sich: Die Nuancen in der Wahrnehmung verändern die Wirklichkeit entscheidend. Die Mädchen sind fasziniert von unterschiedlichsten Männern, bevorzugt Botticelli-Jünglinge mit langen Locken, deren Abgründe sie ausloten wollen. Ungeduldig wie sie sind, reicht die Zeit nie dazu – oder liegt es doch eher daran, dass sie zu sehr mit der eigenen Nabelschau beschäftigt sind? Mit Tabletten und Drogen entfliehen sie in Parallelwelten und probieren halb benommen allerlei erotische Eskapaden aus. Die Menschen um sie herum bilden dabei letztlich nur ein großes Experimentierfeld. Fortwährend drängt sich dem Leser die Frage auf, ob sie überhaupt zu Beziehungen fähig sind – sie brauchen sich nicht auf andere einzulassen, sie haben einander. Dabei experimentieren sie fleißig, meist neugierigen Impulsen folgen, ohne großes Ziel vor Augen. Die scheinbare Naivität der Zwillinge, die sich gerne als kleine Mädchen bezeichnen, wird auch in der Rückblende noch einmal kräftig beschworen und lässt das Flower-Power-Hoppla!-Ach, war da was? vor den Augen des Lesers wiederauferstehen. “Wir wollten berühmt, reich und erleuchtet werden, ohne schwer arbeiten zu müssen”, schreibt Jutta. “Wir mussten Vorsorge treffen. Paul, der uns bis dahin, neben vielen aneren, wichtig war, wurde nun unser Unterpfand für die Zukunft. Wir beschlossen, dass Gisela ihn ‚bekommt‘. Meine Rolle blieb vorerst unsichtbar. Ich unterstützte Gisela. Im Zusammenhang mit dem Paulprojekt verteilten wir zum ersten Mal ausdrücklich unter uns Rollen. Gisela wurde der Außenminister, zuständig für die Beschaffung nötiger Mittel. Innenminister Jutta kümmerte sich um Motivation und Perspektiven. Im nächsten Schritt musste Paul Gisela heiraten wollen.” So klar beschreiben die Zwillinge selten, aber gerade im Lavieren der beiden, im Vor-lauter-Bäumen-nicht-den-Wald-Sehen besteht auch ein Reiz des Buchs: Der Leser enträtselt von Seite zu Seite mehr, wie der Hase läuft. Paul, der oben Genannte, ist Paul Getty, ein Enkel des Multimillionärs, der entführt wird, und wird später tatsächlich Gisela heiraten. Voller Wehmut sind die Zwillinge auf permanenter Sinnsuche, klammern sich an neue Aufgaben, die ebenfalls Experimentierfeld sind. Politische Vorstellungen fügen sich da nahtlos ein, stellen große Abenteuer dar, die meist von kurzer Dauer sind. Dazwischen immer Name-Dropping, Popstars wie Elton John und Bob Dylan, Filmstars wie Dennis Hopper, Barbra Streisand, Kommunarden wie Rainer Langhans, Erben wie Piero Pirelli, Dichter wie Wolf Wondraschek, Alberto Moravia, Regisseure und Produzenten wie Carlo Ponti, Bertolucci, Rosselini, Alexander Kluge, alle ziehen sie sich wie Perlen an einer Schnur durch das Buch, keine Seite ohne Promi. Auch Aufbau-Verleger Bernd Lunkewitz als Flugblätter verteilender junger Genosse ist beschrieben. Der konstante Genuss von LSD, Acid, Kokain etc. sorgt dafür, dass sich Traum und Wirklichkeit in einer Balance halten, die ständig zu kippen droht. Ein treffendes Bild ist das von Jutta und Gisela als Narziss und Goldmund, die sich nach dem Opiumrauchen synchron in Mario Schifanos Seidenkissen übergeben. Paul wird schließlich an Koks und Heroin zu Grunde gehen. So erfinden sich die Zwillinge unkonventionell ihr Leben, stricken an Legenden, ziehen Menschen an und stoßen sie ab. Eigentlich sind es nur wenige Jahre, die hier ausführlich beschrieben werden. Aber die sind so prall gefüllt wie 20 Leben. Interessant zu lesen ist das. Mitunter macht es nachdenklich. Was bleibt? “Bei uns dreht sich alles um Verliebtheit, Selbstverliebtheit, Narzissmus.” Gisela Getty, Jutta Winkelmann, Jamal Tuschik: Die Zwillinge oder Vom Versuch, Geld und Geist zu küssen. Weissbooks 2008, 396 Seiten, 22 Euro Weitere Buchtipps finden Sie hier!