Nächste Woche hat die Branche also ein paar Tage Corona-frei. Richtige Ferien dürften es nicht werden, denn Rückabwicklungsaufgaben stehen nun an. Aber vielleicht bleibt etwas Zeit für ein paar nachdenkliche Fragen: Wie soll man mit Situationen umgehen, die nach einer Entscheidung verlangen, ohne dass es eine von Fachleuten einheitlich bewertete Sachlage gibt?
Die meisten Teilnehmer*innen der öffentlichen Diskussion haben darauf eine interessante Antwort gegeben: Reagieren wir doch mit Über-Nacht-Umschulung zum Lehrstuhlinhaber für Virologie, wahlweise Epidemiologie, hilfsweise zumindest Risikoforschung! Man wusste rigoros Bescheid. Entweder wusste man, dass einzig und allein eine Absage der Buchmesse vernünftig ist; oder man wusste, dass eine Absage der Buchmesse allein mit der medial befeuerten Hysterie zu tun hat. Viele, die gerade der infektiösen Welt die infektiöse Welt erklären, sind mit dem – der Wissenschaft noch kaum bekannten – Virus schon auf du und du.
Leichten Sinnes und schwer beunruhigt schreibt man dann vor der gestrigen Absage Sätze wie "Die Buchmesseverantwortlichen scheinen ohne Skrupel für einen unvermeidbaren rasanten Anstieg der Fallzahlen flächendeckend in Deutschland sorgen zu wollen" oder, andersrum und am Tag danach, "Die Vernunft steht weltweit unter Quarantäne". Beides kommt aus derselben Schule der Behauptungsfreude, in der gelehrt wird, Meinungen grundsätzlich zu statuieren, statt Sichtweisen mal probehalber vorzuschlagen. Schöne Schwebesätze, die zugeben, dass Abwägen immer eine komplizierte Sache ist, dass der Abwägende, wenn er entscheidet, nicht genau wissen kann, ob er eine gute Entscheidung trifft, sucht man vergebens.
Damit wir uns nicht missverstehen: Leipzig ausfallen zu lassen, London – wie soeben bekannt gegeben wurde – zu canceln, die lit.COLOGNE mit dem rheinlandtypischen Spaßverzichts-Delay wohl demnächst auch abzublasen (Heinsberg legt es ja nahe) sind bzw. wären allesamt hoch respektable Reaktionen auf eine nicht leicht zu bewertende Gefährdungslage. Aber wenn man liest, wie grob auf der einen Seite die öffentliche Debatte dazu läuft, und wie fein andererseits etwa ein Messechef Oliver Zille die Dilemmata seines Teams und die Dynamiken der jüngsten Entwicklung in Worte fasst (zum Interview), liegen doch Welten dazwischen. Es scheint für viele Menschen unvorstellbar geworden zu sein (außer in der Facebook-Zeile "Beziehungsstatus"), den auf Unentschiedenheit deutenden Satz "Es ist kompliziert" hinzuschreiben.
Ist es aber! Für die Messe stand nach einem Jahr intensivster Vorbereitung auf die vier Tage im März nicht nur emotional enorm viel auf dem Spiel. Diesseits von Covid-19-Ängsten läuft nun bei dem großen Feldversuch "Ein Frühjahr ohne Buchmesse" eine bewährte heuristische Frage im Hintergrund mit: Was passiert eigentlich, wenn nichts passiert? Welche Auswirkungen hat die Absage von Leipzig auf mein eigenes Business, welche auf den Buchmarkt insgesamt? In Zeiten, in denen Unternehmen der Branche ihre Ausgaben stets aufs Neue begründen müssen, bedeutet der Ausfall einer Messe selbstverständlich auch eine Gefahr für das Geschäftsmodell "Stände vermieten". Je lauter aber da draußen alle ihre epidemiologischen Gutachten ausfertigen, desto leiser kann drinnen das Controlling seinen kühlen Job verrichten.
Von dieser unbesprochenen Nebenwirkung ganz abgesehen, hätte ich da als freier Mitarbeiter am Lehrstuhl für epidemische Meinungsinfektionen eine Idee: Lasst uns die Schule der Behauptungsfreude für, sagen wir, zwei Wochen schließen. Das wäre ein schwerer Schlag gegen die derzeit rasante Verbreitung von Erregungserregern. Die Virologen sollen derweil an Sars-CoV-2 weiterforschen, bis der Impfstoff kommt. Die zuständigen Behörden sollen unterdessen sinnvolle Einzelfallentscheidungen treffen, die dann umgesetzt werden. Die Krankenhäuser sollen aufpassen, dass sie sich mit der Befolgung von Quarantäne-Regeln für medizinisches Personal nicht bald selbst außer Betrieb setzen. Die Arbeitgeber und Arbeitnehmer aller Länder sollen risikomindernde Verhaltensvorschläge unaufgeregt beherzigen.
Bleibt gesund, Leute!
Als bekennender nicht-Experte in Sachen Virologie, der allerdings ein klein wenig davon versteht, was sich hinter einer Messe versteckt, habe ich die Debatte auch auf dieser Seite mit wachsendem Grimm einerseits und wachsendem Respekt andererseits verfolgt: Grimm, weil den Leipzigern recht unverschämte Vorwürfe gemacht wurden, Respekt, weil die Leipziger sich aus den Debatten raus gehalten haben und abgewartet haben, bis sie einen klaren Weg seitens des zuständigen Gesundheitsamts vorgegeben bekamen.
Dieses Vorgehen von Oliver Zille und seinen Leuten war jedenfalls wesentlich klüger und verantwortungsbewusster als das der Londoner, die sich letztlich von den Absagen großer Aussteller und vieler Agenturen zur Absage ihrer Buchmesse haben treiben lassen.
vielleicht können wir uns einfach freuen (und vielleicht auch einfach akzeptieren?), dass wir in einer Branche unterwegs sind, die vor allem von einer bunten, vielfältigen und inklusiven Sprache lebt und auch von ihr profitiert.
Aber man muss ja jetzt auch nicht zwingend noch mehr Fässer aufmachen als auf dieser Seite eh schon offen sind...
Ich für meinen Teil war ein Befürworter der Messeabsage, hatte aber auch von Anfang an großen Respekt vor Herrn Zille und seinem Team, die sich diese Entscheidung natürlich nicht leicht gemacht haben. Vor der Absage habe ich proaktiv unter dem Motto #bleibzuhauseundlies dazu aufgerufen, nicht nach Leipzig zu fahren, und dafür jedem, der nicht fährt, ein kostenloses E-Book versprochen. Ich bin kein Virologe, sondern habe diese Entscheidung nach Sichtung diverser Quellen und Meinungen (insbesondere von Fachleuten wie Prof. Dr. Kekulé) getroffen, in dem Gefühl, dass ich selbst möglichst auch etwas zur Entschärfung der Situation beitragen sollte. Mir ging und geht es dabei darum, den Schaden, der durch das Coronavirus in der Buchbranche und in der Bevölkerung angerichtet wird, zu minimieren. Inzwischen ist diese Aktion, die auch schon als "Boykottaufruf" fehlinterpretiert wurde, zu einem Trostpflaster für alle von der Absage betroffenen Leser*innen mutiert.
Sind meine Entscheidungen und Maßnahmen "richtig"? Das werden wir nie sicher wissen. Sollte ich also aufgrund dieser Ungewissheit lieber die Klappe halten und nichts tun? Das wäre auch eine Entscheidung, aber möglicherweise die falsche. Da nehme ich lieber in Kauf, mit meiner Meinung daneben zu liegen - und akzeptiere es, wenn mir "Panikmache" vorgeworfen wird (mehr dazu hier: https://www.ki-risiken.de/2020/03/04/alles-nur-panikmache/)
Herr Störiko-Blume, Sie mögen mir bitte das Gendersternchen verzeihen - das ist auch so eine Entscheidung unter Unsicherheit. Von manchen wird es vehement eingefordert, von vielen nicht, es ist eben kompliziert. Ich bin mir nicht sicher, was richtig ist, habe aber das Gefühl, dass es immer noch keine wirkliche "Genderneutralität" im Denken gibt und sich viele klassische und völlig überholte Vorurteile tief in den Köpfen festgesetzt haben. Vielleicht kann das Sternchen als kleiner "Irritator" da etwas bewegen, auch wenn - bzw. gerade weil - es nervt.
(Und, lieber Herr Störiko-Blume, wenn Sie das Sternchen so stört, schreiben wir eben gleich "Teilnehmerinnen". Da werden Sie dann wohl nichts dagegen haben. Sind ja mit eingeschlossen.)