Dass Heinrich Hoffmanns Struwwelpeter auch 2020 noch so aktuell ist, sehe ich vor allem in vier Punkten begründet:
Archetypische Konflikte
Heinrich Hoffmann ist es gelungen, Konflikte darzustellen, die seit 175 Jahren immer wieder für neue Kindergenerationen aktuell sind und ähnlich erlebt werden: Umgang mit Aggressionen, Gefahrenabschätzung, Unachtsamkeit sowie Toleranz gegenüber Menschen mit anderer Hautfarbe. Immer wieder verhandeln Kinder mit den Erwachsenen Regeln: Warum soll ich den blöden Salat essen? Warum darf ich kein Kind mobben? Warum darf ich keine Tiere quälen? Der Struwwelpeter mit seinen dramatisch überzeichneten Bildern liefert das Material, um in der Phantasie Konflikte durchzuspielen und sich auch eigenen Ängsten zu stellen. Welches Kind erfährt seine Umwelt als heile Welt und sich selbst als ständig lieb? Erzogen werden heißt, sich den Normen und Werten der Erwachsenen anzupassen. Aufwachsen bedeutet, sich in einer gefährlichen Welt orientieren zu lernen.
Komische Bilder
Der Humor erleichtert es Kindern, sich von der tragischen Handlung zu distanzieren. Mit dem Lachen über Sturzbäche weinende Katzen mit Taschentüchern verliert auch das Bild des brennenden Mädchens an Bedrohlichkeit.
Subversiver Reiz des Verbotenen
Die Moral im Struwwelpeter kommt oft doppelbödig daher: Was soll man von einem Helden halten, der unordentlich ist, seine Haare so trägt, wie er will, und so bleiben darf? Von einem Suppen-Kaspar, der lieber verhungert, als die Suppe auszulöffeln? Reißt Zappel-Philipp dem nörgelnden Vater nicht das Essen vor der Nase weg?
Was ist Literatur?
Ganz groß gesprochen: Kinder lernen mit dem Struwwelpeter den Unterschied zwischen Fiktion und Realität kennen. Sie erfahren, was Literatur ist: "Die Geschichte hat sich jemand ausgedacht. Sie passiert nicht in echt. Und trotzdem hat sie etwas mit mir zu tun." In Zeiten von Fake News schadet es nicht, Ansätze von Medienkompetenz schon im Bilderbuch-Alter zu entwickeln.