Interview mit den Literaturpreisforschern Sarah Maaß und Dennis Borghardt

Mehr Literaturpreise, mehr Wettbewerb, mehr Publikumsbeteiligung

10. Dezember 2019
Redaktion Börsenblatt
Wie viele Literaturpreise gibt es? Sind das zu viele? Welche Funktionen erfüllen die Auszeichnungen? Sarah Maaß und Dennis Borghardt erforschen im DFG-Projekt "Literturpreise im deutschsprachigen Raum seit 1990" an der Universität Essen-Duisburg. Ein Interview mit den Literaturpreiswissenschaftlern.
Wie viele Literaturpreise gibt es im deutschsprachigen Raum?

Sarah Maaß: In Deutschland zählen wir 1.130 Literaturpreise im Untersuchungszeitraum von 1990 bis 2018. Zieht man die eingestellten oder ruhenden Preise ab, sind es immer noch 950. Es hat sich mit Beginn unserer Arbeit relativ schnell herausgestellt, dass der Recherche- und Dokumentationsaufwand so hoch ist, dass wir unsere Erhebung zunächst auf die Literaturpreislandschaft Deutschlands beschränken müssen. Für den Einstieg in deren Erfassung konnten wir dankenswerterweise auf das verdienstvolle Handbuch der Kulturpreise von Andreas Joh. Wiesand zurückgreifen – Vergleichbares gibt es für den gesamten deutschsprachigen Raum bisher nicht.

Ihre Literaturpreisforschung reicht also nicht über Deutschland hinaus?

Sarah Maaß: Unsere Ergebnisse beanspruchen nicht nur für Deutschland Geltung, denn 333, also ein gutes Drittel, der aktiven Literaturpreisen richten sich an den deutschsprachigen Raum, 138 weitere zielen über den deutschen Sprachraum hinaus. Man kann und muss die hohe Zahl allerdings differenzieren: Sie umfasst auch Preise, die jeweils in mehreren Sparten vergeben werden (etwa als Haupt- und Förderpreis, Haupt- und Publikumspreis oder für mehrere Genres). Rechnet man hier jeweils nur einen "Dachpreis", ist von ca. 900 Preisen auszugehen. Außerdem werden die Preise ja in unterschiedlichem Turnus verliehen, sodass nicht jedes Jahr 950 Preise vergeben werden – 2018 waren es beispielsweise "nur" 579.

Entwertet die Fülle nicht jeden einzelnen Preis?

Dennis Borghardt: Diese Entwertung wird tatsächlich schon seit den 1960er Jahren häufig im Feuilleton behauptet, teils auch von Seiten der AutorInnen. Dazu gesellen sich oft Kommerzialisierungsvorwürfe. Die Rede von einer Preisflut zielt allerdings an der Diversität der Preise vorbei – beispielsweise hinsichtlich ihrer Dotierungen, Wertmaßstäbe und Auszeichnungsrahmen. Aus unserer Sicht lohnt sich ein genauerer Blick, um zu sehen, dass und wie sich in der Vielfalt der Preise bestimmte Potentiale entfalten, die auf den Literatur- und Kulturbetrieb wirken.

Aus Ihrer Sicht hat oder kann also jeder Literaturpreis seine Berechtigung haben.

Dennis Borghardt: Die Funktionen, die sich auch in den Programmatiken und Satzungen der Preise widerspiegeln, sind jedenfalls erstaunlich vielfältig, wenn man an die explizite Würdigung von Genre-Sparten, die Förderung des Nachwuchses, die Etablierung von Jugendjurys oder die Förderung lokaler und regionaler Kulturpolitiken denkt. Auch der Aspekt des performativen Wettstreits, wie beim Bachmann-Preis, ist nicht zu unterschätzen. Gerade wegen der Unterschiedlichkeit der Formate hat jeder Preis seinen Platz im Feld; oder er versucht zumindest, einen solchen einzunehmen. Unser Blick geht insgesamt dahin, das Nebeneinander der Strukturen im Feld der Literaturpreise zu untersuchen. Also nicht so sehr eine Einordnung von "werthaltigen" oder "weniger werthaltigen" Preisen vorzunehmen, sondern diese in ihren gesellschaftlichen Konstellationen und Wertungspraktiken zu analysieren.

 

Wie lautet Ihre Definition von „Literaturpreis“ in Abgrenzung zu Kulturpreisen, Stipendien usw.?  

Sarah Maaß: Wir definieren Literaturpreise zunächst als turnusmäßig und retrospektiv vergebene Auszeichnungen. Anders als Stipendien dienen Preise weniger explizit der finanziellen Ermöglichung zukünftigen künstlerischen Arbeitens im Sinne einer Projektförderung. Preise sind außerdem mit einer materiellen Gratifikation verbunden – das kann ein Geldbetrag sein, aber bereits Blumenstrauß und Urkunde oder Skulptur/Trophäe sind solche Objekte, die die Auszeichnung verkörpern. In der Regel sind Preise zudem mit einem ritualisierten Verleihungsakt verknüpft. Die Grenzen zu anderen Auszeichnungsformen wie Stadtschreiberstellen, Poetik-Dozenturen, Mitgliedschaften in Akademien oder ähnlichem sind freilich fließend – für uns gelten hier vor allem das Selbstverständnis und das formale Profil der jeweiligen Auszeichnung. So ist zum Beispiel das ‚Amt‘ des Stadtschreibers von Bergen-Enkheim mit einem Preisgeld verbunden und wird vom Preisstifter selbst als Stadtschreiberpreis bezeichnet – er fällt somit in unseren Gegenstandsbereich.

Muss es sich um einen literarischen Text handeln, oder fassen Sie den Literaturbegriff weiter?

Erstaunlicherweise ist gerade die Festlegung auf den Auszeichnungsgegenstand gar nicht so unstrittig: Normalerweise werden Literaturpreise als Prämierungen von AutorInnen oder Texten konzipiert; nun zeigt sich aber, dass auch für andere Praktiken der Produktion, Distribution und Rezeption von Literatur Preise verliehen werden – etwa für verlegerische Leistungen, Illustrationen und Buchgestaltung, für Bibliotheksprogramme oder Literaturvermittlungsprojekte, Blogs und Hörbücher. Wegen dieser empirischen "Unschärfe" des Auszeichnungsobjekts definieren wir als Literaturpreise alle Preise, die für literarische Praktiken (und eben nicht nur für Werke und an AutorInnen) verliehen werden. Dazu gehören zum Teil auch Kulturpreise, bei denen Literatur eine von mehreren ausgezeichneten Kunstsparten ist – wir zählen dabei aber nur die Jahre, in denen der Preis auch in der Sparte Literatur vergeben wurde.

Wie viele von den vielen Literaturpreisen spielen für den Buchmarkt eine Rolle?

Sarah Maaß: Das lässt sich schwer quantifizieren, da man dafür ja erst einmal sagen können müsste, welche Rolle sie für Buchmarkt oder Literaturbetrieb spielen – und das ist sehr unterschiedlich. Wenn sich etwa der Open Mike auf die Fahne schreibt, den PreisträgerInnen den Weg in den Literaturbetrieb zu öffnen, geriert er sich gewissermaßen als Talentscout für Verlage und Literaturkritik. Ein Großteil der Preise (und das trifft sich mit der Meinung des Feuilletons) versteht sich mit Blick auf das Lesepublikum als Orientierungsinstrument, das in der Überfülle der Buchproduktion das Beste sichtbar macht – zum Teil wortwörtlich, indem die Preisträgerwerke mit Gütesiegel versehen werden. Wieder andere Preise generieren für den Buchmarkt Produkte bzw. Waren: Sie sind, etwa eine Reihe von Lyrik- oder Kurzprosa-Preisen, in Schreibwettbewerbe eingebettet, aus denen quasi als Nebenprodukt Anthologien entstehen (z.B. beim Lyrischen Lorbeer-Preis des Bielefelder Lorbeer-Verlags).

Mit ebenso viel Recht könnte man sagen, dass die Preise, die in ihrem Auswahlprozess und ihrer Zielsetzung auf kulturelle bzw. literarische Bildung setzen (zum Beispiel durch die Einbindung von Jugendlichen oder generell Laien in die Juryarbeit) daran Teil haben, für den Buchmarkt dessen Publikum, ja: dessen Kunden zu generieren oder zu sichern.

Was wir auf empirischer Basis sagen können: 98 Preise positionieren sich ausdrücklich  innerhalb des Buchmarkts oder Literaturbetriebs – dabei wird oft auf die Spannung zwischen Kunst und Ökonomie Bezug genommen; entweder indem der Preis die wirtschaftliche Dimension von Literatur und Literaturbetrieb sozusagen bekräftigt (zum Beispiel wenn er sich als verkaufsförderndes Instrument präsentiert oder das meistverkaufte Buch eines Jahres auszeichnet), oder indem diese Dimension gerade zurückgewiesen wird und sich ein Preis als Gegengewicht zu Kommerzialisierung versteht.

In Deutschland vergebene Literaturpreise? Literaturpreise im deutschsprachigen Raum? Welche Unterteilung ist sinnvoll?

Sarah Maaß: Die Verortung der Preise ist tatsächlich gar nicht so selbsterklärend, weil es unterschiedliche Kategorisierungsmöglichkeiten gibt, je nachdem, ob man die auslobende Instanz, die Reichweite bzw. Zielgruppe, die Preisgeld-Stifter oder den Ort der Verleihung zugrunde legt. Für unsere Erhebungen sind wir von der auslobenden Instanz als entscheidendem Kriterium ausgegangen, da sie den Preis (auch im juristischen Sinne) repräsentiert. Wie gesagt fallen damit natürlich auch Preise in unser Untersuchungskorpus, die sich an den gesamten deutschsprachigen oder sogar internationalen Raum richten. Literatur ist per se ebenwenig national wie viele der Werte, die mit den Preisvergaben bekräftigt werden sollen. So ist es zum Beispiel der Anspruch des Geschwister-Scholl-Preises, durch die Auszeichnung von Literatur "bürgerliche Freiheit, moralischen, intellektuellen und ästhetischen Mut zu fördern", und zwar über Ländergrenzen hinweg.

Dennis Borghardt: Dass es historisch gewachsene Strukturen gibt, auch bei den Preislandschaften, ist nicht zu bezweifeln. Die Frage ist, wie tragfähig solche Kriterien wie "gemeinsamer Sprachraum" oder "kulturelle Homogenität" sind. Wir planen zur Erörterung dieses Themenfeldes für das nächste Jahr eine Tagung in Essen, zu der wir auch internationale Gäste einladen werden, sich zu Literaturpreisen in ihren jeweiligen Ländern zu äußern. Zudem erörtern wir gerade in der Ringvorlesung "Ausgezeichnet! Zur Geschichte, Theorie und Praxis von Literaturpreisen", die wir an der Universität Duisburg-Essen anbieten, nationale Preiskulturen – beispielsweise amerikanische, französische, niederländische und lettische. 


Die 20 wichtigsten Literaturpreise im deutschsprachigen Raum - welche Auszeichnungen gehören auf die Liste?

Dennis Borghardt: 20 wäre eine etwas willkürliche Begrenzung angesichts der unübersichtlichen Preislandschaft in Deutschland. Über Relevanz lässt sich aber natürlich sprechen. Allerdings kommen dann nicht nur die monetären Aspekte ins Spiel; auch symbolisches bzw. kulturelles Kapitel ist zu beachten, was sich ungleich schwerer messen lässt als ein Ranking von Dotierungen. Als renommierte und traditionsreiche Preise sind aber sicher der Büchner-Preis, der Thomas-Mann-Preis oder der Leipziger Buchpreis zur europäischen Verständigung zu bezeichnen. Der Deutsche Buchpreis wiederum ist ein spezielles Phänomen: Obwohl er selbst nicht besonders alt ist, kommt ihm erhöhte Aufmerksamkeit einerseits wegen seines staatstragenden Titels, andererseits auch wegen des Verleihungsrahmens bei der Frankfurter Buchmesse zu, was natürlich größtmögliche Öffentlichkeit garantiert. Aber auch manche Preise, die ihrem Namen nach lokal oder regional begrenzt scheinen, können überregionale Bedeutung gewinnen. Beispielsweise der Bremer Literaturpreis, der schon AutorInnen ausgezeichnet hat, die spätere NobelpreisträgerInnen wurden, wie Jelinek und Handke. Daneben stehen Preise wie der Ingeborg-Bachmann-Preis seit Jahren im Fokus, bei denen der performative Aspekt, das Vortragen bislang unveröffentlichter Texte, und die öffentliche Jurydiskussion zentrale Rollen spielen. Auch der Open Mike wird von Jahr zu Jahr bekannter und vom "klassischen" Feuilleton zunehmend wahrgenommen. Der Friedenspreis des deutschen Buchhandels wiederum richtet sich dezidiert international aus und hat sicherlich ein immenses Renommee; da er sich aber als Kulturpreis nicht ausschließlich an Literaten richtet, fällt er streng genommen gar nicht in die Kategorie Literaturpreis im engeren Sinn. Es ist also schwierig, ein Schema zu finden, nach dem sich die Relevanz der Preise in ein eindeutiges Ranking bringen ließe.

Welche Funktionen erfüllen Literaturpreise für wen? (Autor, Preisstifter, Verlag, Leser…)

Dennis Borghardt: Im Rahmen des Projekts fassen wir Literaturpreise als polyfunktional auf. Daraus ergeben sich unterschiedliche Bestimmungsweisen je nach eingenommener Perspektive. Dass ein Preis ausschließlich literarische Qualität auszeichnen würde, ist eher ein Mythos. Viele Faktoren spielen eine Rolle dafür, dass ein bestimmter Preis einer bestimmten Autorin oder einem bestimmten Autor verliehen wird. Der Eindruck entsteht, dass es nicht ausschließlich um Evaluationen im Sinne eines Expertisen-Urteils geht, sondern um Valorisierung. Mit diesem Begriff erfassen wir auch solche Phänomene, bei denen bestimmte Werte von dem Preis überhaupt erst hervorgebracht bzw. gesetzt werden. Und diese Werte haben wiederum Geltung für unterschiedliche Zielgruppen. So zeichnen viele Preise im Kinder- und Jugendliteraturbereich nicht nur besonders ‚gute Texte‘ aus, sondern zielen ebenso sehr auf Aspekte der Lesesozialisation, Leseförderung und Partizipation, indem sie den Wert des kindlichen Lesens propagieren und in Form von Schülerjurys auch performativ vorantreiben. Dass sich hier eine Hochkultur über eine vermeintliche Trivialkultur erheben würde, wie es Anhänger einer bestimmten Adorno-Tradition vielleicht gerne hätten, lässt sich überhaupt nicht feststellen.



Wann ist ein Literaturpreis erfolgreich?

Sarah Maaß: Gern wird in der Berichterstattung über Preisvergaben ja der Begriff des Renommees benutzt: "Person X hat einen der renommiertesten Literaturpreise Deutschlands erhalten". Wenn wir Renommee mit Bekanntheits- oder vielmehr Anerkennungsgrad gleichsetzen – ist das wirklich der einzige Erfolgsindex? Angenommen, ein Preis ist erfolgreich, wenn er sich als eine Art "Marke" in der Preislandschaft etablieren kann – dann verhält sich die so generierte öffentliche Aufmerksamkeit immer noch relativ zur Preis-Programmatik und -Zielgruppe. Für die "großen" Preise ist sicher die Akklamation der Laureaten-Auswahl im literaturkritischen Diskurs wichtig, für andere die Anerkennung in kleineren Inner Circles oder Fan-Gemeinden; für wieder andere bemisst sich der Erfolg an der Steigerung von Verkaufszahlen für Buchhandel und Verlage, für AutorInnen ist die spürbare Zunahme an Einnahmen aus Lesungen oder ähnlichem womöglich viel wichtiger. Ein Preis, dem mehr an der Dynamisierung des kulturellen Lebens in einer bestimmten Region gelegen ist, wird ganz andere Parameter zur Bewertung seines Erfolges anlegen als zum Beispiel der Büchner-Preis – etwa die Besucherzahlen bei der Verleihungsveranstaltung, die bei Regionalpreisen immer häufiger in ein Festival eingebettet ist. Anderen Preisen, oft im Bereich Kinder- und Jugendliteratur, geht es neben der Würdigung von AutorInnen um Leseförderung oder kulturelle Bildung – wie misst man da den Erfolg? Welche Funktionen Literaturpreisen (und damit auch der Literatur selbst) zugeschrieben werden, welche Veränderungen und Konstanten in den literarischen wie außerliterarischen Wertordnungen die Preisvergaben anzeigen – das sind unseres Erachtens wichtigere Fragen als die latent normative Einteilung der Literaturpreislandschaft in erfolgreiche und weniger erfolgreiche, wichtige und unwichtige oder gar verfehlte Preise und Preistypen.


Wie hat sich die Literaturpreislandschaft in den vergangenen zehn Jahren entwickelt?

Sarah Maaß: Zuerst einmal ist sie gewachsen. Seit 1990 wächst die Zahl der Literaturpreise kontinuierlich, in den letzten Jahren allerdings nicht mehr so schnell; einen deutlichen Knick gab es beispielsweise um 2009 – also mit Beginn der Finanzkrise, was sicher kein Zufall ist. Darüber hinaus gibt es eine Reihe interessanter qualitativer Entwicklungen, die noch genauerer Reflexion bedürfen: So lässt sich seit 1990 eine deutliche Zunahme des Anteils an wettbewerbsförmigen Preisen beobachten, deren Anteil an der Preisgesamtheit mittlerweile bei rund 40% liegt (1990 waren es noch ca. 26%). Das ist zum Teil mit anderen Entwicklungen gekoppelt, etwa einer Steigerung des Anteils an Preisen, die sich an Laien richten. Solche Preise sind zu 90% wettbewerbsförmig, Nachwuchspreise noch zu mehr als 50%. Es scheint, als würden mit Preisvergaben zunehmend kultur- und bildungspolitische Ziele verfolgt, also in unterschiedlicher Hinsicht auf Partizipation gesetzt – etwa auch durch Formen der Publikumsaktivierung, nicht nur bei sogenannten Publikumspreisen, sondern auch durch neue Preisformate wie die genannte Festival-Einbettung, neuartige Selektionsmechanismen wie Online-Votings oder innovative Vergaberituale mit Leseperformances, Diskussionen oder ähnlichem.

Dann lässt sich an Literaturpreisen natürlich auch die Diversifizierung von Genres und literarischen Praktiken ablesen. Zu nennen ist da die Etablierung robuster, wenn auch kleiner Preis-Sparten für vormals weniger anerkannte Genres wie Krimi, Comics, Hörspiele und Fantasy-Literatur, für neue Genres wie Blogs, Reiseliteratur oder Nature-Writing. Auch Essayistik-Preise mit durchaus kritischem Impetus haben momentan Konjunktur. Dann sind –offenbar als Kompensation für die strukturellen Veränderungen der Verlagslandschaft – in den letzten drei Jahren neue Verlagspreise für unabhängige, kleine und avancierte Verlage gegründet worden (Berliner Verlagspreis, Hessischer Verlagspreis und 2019 der Deutsche Verlagspreis), während gleichzeitig auch von vorrangig wirtschaftlichen Akteuren das Selfpublishing mit Preisen bedacht wird.

Robust bzw. konstant in der Literaturpreislandschaft ist auch der Parameter der Regionalität: Ungefähr die Hälfte der Preise verknüpft ihre Auszeichnungspraxis in unterschiedlicher Weise mit der Aufwertung eines Ortes oder einer Region – wobei seit ungefähr 2006 besonders der Anteil von sich international, etwa europäisch, gerierenden Preisen deutlich zunimmt.

Müssen Frauen noch klagen oder werden die Preise mittlerweile gerechter zwischen den Geschlechtern aufgeteilt?

Sarah Maaß: Die Gender-Frage hat in den letzten Jahren den Literaturbetrieb und Feuilleton-Diskurs ja durchaus beschäftigt, sicher nicht zuletzt wegen #MeToo und des Forschungsprojekts #frauenzählen und seiner Pilotstudie „Sichtbarkeit von Frauen in Medien und im Literaturbetrieb“. Ich denke, man kann vorsichtig sagen, dass sich in den letzten, sagen wir drei Jahren dadurch auch etwas im Feld der Literaturpreise getan hat. (Die taz hat 2018 beispielsweise zum „Jahr der Autorinnen“ erklärt, weil alle wichtigen Literaturpreise an Frauen gegangen seien [https://taz.de/Literaturpreise-gehen-an-Frauen/!5553753/]) Allerdings scheinen hier deutliche Unterschiede zwischen den einzelnen Preisen zu bestehen, wenn man Stichproben heranzieht. Während beispielsweise das Geschlechterverhältnis bei den PreisträgerInnen des OpenMike und des Deutschen Buchpreises ausgeglichen ist, bestehen gerade im hochdotierten Preis-Segment und bei den langjährig bestehenden Preisen teils noch krasse Unterschiede (selbst wenn man nur die Vergaben seit 2000 heranzieht). Beim Georg-Büchner-Preis und beim Bremer Literaturpreis beispielsweise machen Frauen seit 2000 nur ein Drittel der PreisträgerInnen aus, beim Joseph-Breitbach-Preis gar nur ein gutes Viertel, der 2014 gegründete und erst dreimal vergebene Siegfried Lenz Preis hat noch keine Frau ausgezeichnet und der Frauenanteil des mit 50000 Euro dotierten Goethepreises liegt in den Jahren, in denen er an AutorInnen verliehen wurde, nur bei 16%. Dabei muss betont werden, dass laut des ausführlichen Forschungsberichts des Deutschen Kulturrats zur Situation von Frauen in Kultur und Medien von 2016 mittlerweile mehr Autorinnen als Autoren in der Künstlersozialversicherung versichert sind – ein Indiz, dass es mehr weibliche als männliche professionelle Schriftsteller gibt und somit selbst ein 50/50-Verhältnis von Preisträgerinnen und Preisträgern im Grunde nicht als ‚geschlechtergerecht‘ gelten kann.

In diese Kerbe schlagen übrigens die 14 Literaturpreise, die nur an Autorinnen vergeben werden – wie LiBeratur-Preis, der Meersburger Droste-Preis, der GEDOK Literaturförderpreis, der 2019 erstmals vergebene Gertrud-Kolmar-Preis oder der Roswitha-Preis – der Britta Heidemann (2010 in Der Westen) noch als ein Beispiel für die Überfülle an unsinnigen Literaturpreisen galt, obwohl in der Reihe der Roswitha-Preisträgerinnen schon vor 2010 so hochkarätige Autorinnen wie Felicitas Hoppe, Julia Franck, Gisela von Wysocki oder Herta Müller zu finden sind – so viel zur Frage nach Erfolgsfaktoren von Literaturpreisen.


Wie geht es in Ihrem Forschungsprojekt weiter? Was sind die nächsten Schritte?

Sarah Maaß: Zum einen wollen wir in Fallstudien die aufgezeigte Polyfunktionalität und Diversität systematischer untersuchen. Dazu zählt die Frage, welche Rolle welche Preise im Strukturwandel des Literatur- und Kulturbetriebs spielen. Welche neuen Formate setzen sich durch, welche bleiben bestehen? Dabei haben wir stets die Leitthese im Hintergrund: Preise evaluieren nicht nur, sie setzen und verknüpfen literarische und außerliterarische Werte und sind dabei strategisch eingebettet in übergeordnete soziokulturelle und kulturpolitische Zusammenhänge regionaler und überregionaler Art. Wenn wir nun für ausgewählte Preisgruppen auch die jahrgangsspezifischen Daten wie PreisträgerInnen und Preistexte, Laudationes, Dankesreden und ähnliches ermitteln, tun wir das mit dem Ziel, zu analysieren, wie die Preislandschaft auf die genannten Zusammenhänge reagiert oder an ihnen teilhat – wie sie sich und die Literatur innerhalb soziokultureller Wertordnungen positioniert. Zunächst werden wir uns dabei wohl mit den Wertzuschreibungen beschäftigen, die durch die Preise an Literatur herangetragen werden, konkret mit der Zunahme europäisch ausgerichteter Preise, mit der Relevanz von Partizipations-Paradigmen und der Gleichzeitigkeit von Innovations- wie Traditionsansprüchen.

Dennis Borghardt: Von rein praktischer Seite steht daher im Moment neben der Datenbank-Arbeit, die selbst schon viele Kapazitäten benötigt, die Vorbereitung verschiedener Publikationen an. Neben einem Sammelband, diversen Aufsätzen und Essays arbeiten wir an einer Monographie zum Thema Literaturpreise, die mit den im Projekt erprobten Theoriedesign operieren soll und hoffentlich neue Impulse für das Thema in der germanistischen, aber auch kultursoziologischen Forschung setzen kann.

(Fragen: Sabine van Endert)

Literaturpreise sind das Thema der Woche im Börsenblatt Heft 40, das am 12. Dezember erscheint!