In Sebastião Salgados Fotografien schwelt und raucht es, es stinkt, ist infernalisch laut, unerträglich kalt oder brütend heiß. Salgados ausschließlich schwarz-weiße Fotografie arbeitet mit allen Sinnen und starken Kontrasten.
Die erste Ausstellung Sebastião Salgados, die ich vor vielen Jahren sah, war eine Erschütterung, ein anderer Begriff trifft es nicht. Die Londoner Buchmesse war gerade zu Ende gegangen; leer geredet und übermüdet machte ich mich auf den Weg zum Barbican, weil ich die Ausstellung keinesfalls verpassen wollte. Zwei Stunden später war mein Blick auf die Welt ein anderer. Einige der etwa 100 Bilder vor allem aus Salgados Arbeiten "Serra Pelada", auf denen Menschen zu sehen sind, die wie in einem gigantischen Ameisenbau unter unvorstellbaren Bedingungen in den Goldminen Brasiliens schuften, und "Migrations", in denen die ganze Welt auf den Beinen zu sein scheint, hatten mich mit einer Wucht erfasst, wie man es selten bei einer Ausstellung erlebt.
Salgado, Jahrgang 1944, ist besessen vom Medium der Fotografie. Seinen ersten Blick durch den Sucher einer Kamera zu Beginn der 70er Jahre beschreibt er als eine Art Epiphanie, doch tatsächlich kam seine Hinwendung zur Fotografie nicht von ungefähr. Salgado ist promovierter Wirtschaftswissenschaftler. Es sei seine Lektüre von Marx, Keynes und anderen Theoretikern gewesen, so sagte er der "New York Times", die ihn intellektuell auf seine Arbeit als Fotograf vorbereitet habe.
Auch seine Kindheit auf einer großen Farm in Minas Gerais im südöstlichen Brasilien hat ihn wesentlich geprägt. Dort begleitete er seinen Vater zu Beginn der Regenzeit oft auf stundenlangen Fußmärschen; das sich stetig verändernde Licht, die schweren, aufziehenden Wolkenmassen, die Bergkämme in der Ferne ließen vor seinen Augen Bilder entstehen, die auch heute noch seinen fotografischen Blick bestimmen.
Auch dass Salgado als junger Mann sein Land verlassen musste und zum Migranten wurde, mag eine Rolle gespielt haben. Während der brasilianischen Militärdiktatur hatte er sich in der Oppositionsbewegung engagiert. Als diese zunehmend in den Untergrund gedrängt wurde, zog er 1969 im Alter von 25 Jahren nach Paris, um zu promovieren. Dort lebt er bis heute.
Mehr als 100 Länder hat Salgado bereist. Anders als die meisten Fotojournalisten, die oft nur kurz in ihren Einsatzgebieten bleiben können, verbringt Salgado oft Monate dort, um an seinen groß angelegten Geschichten zu arbeiten. Dank des ökonomischen Erfolgs seiner Bücher, vor allem aber dank seiner Frau, der Architektin Lélia Wanick Salgado, mit der er seit 1967 verheiratet ist und die sich um die grafische Gestaltung seiner Bücher und um alles Administrative kümmert, kann er ausgiebig reisen und sich ganz der Fotografie widmen.
Salgados fotografische Essays sind tatsächlich globale Epen. Da sind seine frühen Arbeiten über die Immigration in verschiedenen europäischen Ländern von 1979 oder "Sahel – Man in Distress", eine Dokumentation der Dürrekatastrophe im nordafrikanischen Hungergürtel. Es folgte "Workers", eine Bestandsaufnahme des Überlebenskampfs von Industriearbeitern weltweit. Endgültig berühmt wurde er mit seiner geradezu enzyklopädischen Dokumentation der Migrationsbewegungen und Vertreibungen rund um die Welt, die durch Kriege, Hunger, Naturkatastrophen und Umweltzerstörung entstehen ("Migrations", "Exodus", 1993 – 99).
Das Migrationsprojekt führte ihn unter anderem nach Bosnien und Ruanda, wo er während des Völkermords Zeuge unvorstellbarer Grausamkeiten wurde. Die Erlebnisse dort stürzten ihn in eine schwere persönliche Krise und ließen ihn zutiefst an seiner Arbeit zweifeln; er wurde krank und hörte zeitweise sogar mit dem Fotografieren auf.
Es war eine Lebenszäsur für Salgado. Auf der Suche nach dem Paradies seiner Kindheit kehrte er zurück auf die Fazenda in Brasilien, wo er aufgewachsen war. Seinerzeit hatten die Ländereien zur Hälfte aus Regenwald bestanden, inzwischen war es nur noch ein halbes Prozent. Sebastião Salgado und seine Frau fassten einen abenteuerlichen Entschluss: Sie würden das Land wieder aufforsten und 2,5 Millionen Bäume pflanzen. Dass dank ihrer Stiftung Instituto Terra unterdessen tatsächlich über zwei Millionen Bäume Wurzeln geschlagen haben und ein Nationalpark entstanden ist, spricht für den unbedingten Willen und die Tatkraft der beiden. Unter anderem davon berichtet die eindrückliche, 2015 für den Oscar nominierte Dokumentation "Das Salz der Erde", mit der Wim Wenders und Salgados Sohn, der Filmemacher Juliano Ribeiro Salgado, dem Fotografen ein Denkmal gesetzt haben.
Seine Schaffenskrise brachte Salgado schließlich zur Naturfotografie, einem Langzeitprojekt, das mit über 500 Bildern in dem monumentalen Buch "Genesis" (2013) seinen Abschluss fand. Es ist eine Reise zu den letzten Naturräumen der Erde, die dem Zugriff unserer modernen Zivilisation noch entgangen sind, und zu den Menschen und Tieren, die in ihnen leben; eine Hommage an die Wunder unseres Planeten, seine Wüsten, Meere, Gebirge, Urwälder, ein einzigartiges Plädoyer für das Leben im Einklang mit der Natur.
Die Opulenz nicht nur dieser Fotografien, auch die Ästhetik seiner früheren Arbeiten in Krisengebieten haben Salgado immer wieder den Vorwurf eingebracht, er inszeniere seine Bilder zugunsten einer Schönheit, die der dargestellten menschlichen Tragödie nicht angemessen sei; er überschreite die Grenze zum Kitsch. Doch ist die Erhabenheit von unberührter Natur und isoliert lebenden Stammesgesellschaften in Salgados "Genesis"-Fotografien nicht der denkbar eindringlichste Appell überhaupt, unsere Schöpfung zu bewahren? Und was wäre angesichts seiner Sujets, angesichts der menschlichen Würde, von der seine Arbeiten seit Jahrzehnten handeln, und angesichts der fortschreitenden Zerstörung der Erde falsch daran, sie mit Pathos ins Bild zu setzen?
Die Spannung von Schönheit und Schrecken in Sebastião Salgados Bildern zeugt von der moralischen Integrität, der Empathie und der unerschütterlichen Hoffnung, die diesen großen Fotografen antreiben und nicht zur Ruhe kommen lassen. Die verdiente Auszeichnung mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels wird ihn hoffentlich weiter in seiner Arbeit bestärken.
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Peter Sillem, früher Programmgeschäftsführer der S. Fischer Verlage, betreibt seit 2017 eine Galerie für internationale Gegenwartsfotografie in Frankfurt am Main.
"Den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verleiht der Börsenverein 2019 an den brasilianischen Fotografen Sebastião Salgado und zeichnet mit ihm einen Bildkünstler aus, der mit seinen Fotografien soziale Gerechtigkeit und Frieden fordert und der weltweit geführten Debatte um Natur- und Klimaschutz Dringlichkeit verleiht. Zugleich hat Sebastião Salgado mit seinem Instituto Terra eine Einrichtung geschaffen, die einen direkten Beitrag zur Wiederbelebung von Biodiversität und Ökosystemen leistet.
Mit seinem fotografischen Werk, das in zahlreichen Ausstellungen und Büchern veröffentlicht ist, nimmt er die durch Kriege oder Klimakatastrophen entwurzelten Menschen genauso in den Fokus wie jene, die traditionell in ihrer natürlichen Umwelt verwurzelt sind. Dadurch gelingt es Sebastião Salgado, Menschen weltweit für das Schicksal von Arbeitern und Migranten und für die Lebensbedingungen indigener Völker zu sensibilisieren. Indem der Fotograf seine aufrüttelnden, konsequent in Schwarz-Weiß gehaltenen Bilder als 'Hommage an die Größe der Natur' beschreibt und die geschändete Erde ebenso sichtbar macht wie ihre fragile Schönheit, gibt Sebastião Salgado uns die Chance, die Erde als das zu begreifen, was sie ist: als einen Lebensraum, der uns nicht allein gehört und den es unbedingt zu bewahren gilt."