Wer die aktuellen Verlagsprogramme durchschaut, dem fällt auf: Religiöse Titel sollen den Leser zunehmend überraschen. Beispiele: "Auch Petrus ist mal ausgerastet" (Herder), "Heiliger Zorn. Wie die frühen Christen die Antike zerstörten" (DVA) – oder auch das Buch "Trump. Du sollst keine anderen Götter neben mir haben" (Patmos), in dem ein Theologe religiös verbrämten Patriotismus und die US-Zivilreligion analysiert.
Titel sollten zwar immer überraschen, meint Herder-Cheflektor und Mitglied der Geschäftsleitung Simon Biallowons, "aber im religiösen Bereich hat die Chuzpe zur frecheren Zielgruppenansprache zugenommen. Wobei das Wort frech nicht gerade frech ist ..." Die Gratwanderung zwischen "anstößig" und "etwas anstoßen" sei nicht immer einfach, aber, so Biallowons: "Die Zeit der sanften 'Perwoll-Titel' ist vorbei." Herder macht bei der jüngeren Zielgruppe auch Tests und fragt Schüler: Wie würdet ihr dieses Buch anteasern?
Auch wenn die Zahl der haupt- und ehrenamtlich Aktiven in den Kirchen abnimmt: "Religiöse Themen sind für eine breite Zielgruppe gar nicht so uninteressant", beobachtet Klett-Cotta-Lektor Christoph Selzer, "ich denke, in den kommenden Jahren werden sich sogar nichtreligiöse Leser dafür interessieren, weil sie das Christentum auch als ein kulturelles Phänomen begreifen." Klett-Cotta-Autor Robin Lane Fox etwa zeigt in "Die andere Geschichte der Bibel. Fakt und Fiktion in der Heiligen Schrift", welche Erzählstrategien vor 2.000 Jahren gewählt wurden und korrigiert damit auch gängige Vorstellungen vom Judentum. "Viele fasziniert der Reichtum an Erfahrungen und Lebensweisheiten, die in der Bibel festgehalten worden sind", betont Selzer.
Die Veränderungen bemerkt auch Butzon & Bercker-Lektorin Heidi Rose: "Die engere religiöse Zielgruppe wird immer kleiner, sodass wir die spirituell interessierten, aber nicht kirchlich gebundenen Leserkreise erschließen müssen." Christentum, Islam und Weltreligionen seien starke Themen für Erzieherinnen und Grundschullehrerinnen, mit denen sie in ihrem Alltag konfrontiert seien. Hilfestellung ist da gefragt – und zwar eine leicht verständliche. Gefragte Themen in der Reihe Den Kindern erklärt sind beispielsweise Titel zu Taufe, Islam und Ablauf der Messfeier.
Früher seien auch Laien mit der mehrbändigen Wuppertaler Studienbibel zum Bibelkreis in die Gemeinde gekommen und bereit gewesen, sich zur Vertiefung des Themas in akademische Titel einzulesen, erinnert sich Silke Gabrisch, Leiterin des Buchbereichs im SCM Verlag: "Diese Bereitschaft hat definitiv nachgelassen." Auf jeden Fall ist es heute den Programmmachern von SCM ein Anliegen, mit ihren geistlichen Sachbüchern Leselust zu wecken: "Man soll sie auch gern im Urlaub oder abends vor dem Einschlafen lesen, nicht nur mit geradem Rücken am Schreibtisch – aber sie sollten Tiefgang haben", sagt Gabrisch.
Heidi Rose teilt diese Einschätzung. Es gehe darum, "komplexe theologische Fragen in leicht verständlichen Antworten zu erklären". Seit einigen Jahren könne man nicht mehr von einem religiösen Basiswissen bei der potenziellen Leserschaft ausgehen, "da sind wir im Butzon & Bercker-Lektorat viel sensibler geworden". Beispielsweise arbeitet das Team mit Infoblöcken, Bildern und kleineren Texteinheiten, um Begriffe wie Evangelium zu erläutern.
Die Lektoren von SCM arbeiten viel mit den klassischen Sinus-Milieus. "Früher waren unsere Kunden sicher vor allem dem traditionellen Milieu oder der bürgerlichen Mitte zuzuordnen", sagt Gabrisch, "heute gibt es eine neue Bewegung von Christen, die dem adaptiv-pragmatischen Milieu zuzuordnen ist." Die erreiche man mit anderen Autoren und anderer Ansprache, zudem seien Ausstattung und Satz vieler Bücher viel aufwendiger zu gestalten. Als Beispiel nennt Gabrisch Tobias Teichens Buch "Roots", das ein klassisches "Lehrthema", nämlich die Heilsgeschichte, zeitgemäß aufbereitet. "Unser aktueller Bestseller, Inka Hammonds 'Tochter Gottes, erhebe dich' für Frauen, zeigt ebenfalls, dass das Interesse an geistlichen Themen ungebrochen ist: Schon nach zwei Monaten haben wir die dritte Auflage angeschoben", so Gabrisch. Der Wunsch nach Orientierung treibt offenbar viele Menschen um, wie auch Klett-Cotta-Lektor Christoph Selzer bestätigt: "Die religiös und historisch interessierte Zielgruppe ist stabil."
Simon Biallowons von Herder weist noch auf eine andere Entwicklung im religiösen Buchsegment hin: Vor allem kleine Formate seien gefragt: "Die Titel werden 'geschenkiger'. Damit erreichen wir eine andere Käuferschicht." Wie kann ein Verlag zusätzliche Käufer gewinnen, ohne die traditionellen zu verlieren? Und wie müssen sich die Produkte dafür verändern? Diese Fragen würden alle Verlage umtreiben, so Biallowons: "Für mich ist das größte Kompliment, wenn eines unserer Sachbücher verschenkt wird."