Seit einer Woche operieren Verlage und Buchhandlungen im Krisenmodus. So ziemlich jedes Unternehmen ist mit der KNV-Insolvenz befasst. Wenn Systemrelevanz heißt, dass der Kollaps eines einzigen Marktteilnehmers den Schwächeanfall einer ganzen Branche auslöst, darf die Diagnose "systemrelevant" für den traditionsreichen Logistiker als gesichert gelten. Bücher haben gerade ein akutes Kreislaufproblem.
Vor der Diskussion der Therapie lohnt eine kurze Anamnese. Etwa seit 2012 entwickelt sich der Barsortimentsmarkt rückläufig. Insider beklagen das seit längerem. Der Gesamtumsatz der Barsortimente hat schätzungsweise die Grenze von einer Milliarde Euro unterschritten. Konzentrationsbewegungen im stationären und Online-Buchhandel begünstigten den Abwärtstrend. Händler wie Amazon und Thalia führen ihre eigenen Zentrallager. Die Verschiebung von Volumen hin zur Direktbelieferung des Sortiments ist die logische Folge. Im Zuge dieses Wandels hat sich das Rabattwesen aus Sicht der Barsortimente – vorsichtig ausgedrückt – nicht zum Besseren entwickelt. An Paragraf 6 Absatz 3 hat man sich souverän gewöhnt: "Verlage dürfen für Zwischenbuchhändler keine höheren Preise oder schlechtere Konditionen festsetzen als für Letztverkäufer, die sie direkt beliefern." Gesetz ist Gesetz. Nichts hat sich geändert – am Paragrafen…
Vor neun Jahren starb Jürgen Voerster, Chef des familiengeführten Buchlogistikers KNV (zu seiner Zeit noch KNO und KV) in fünfter Generation. Im selben Jahr traf die sechste Generation eine Entscheidung zu dem anstrengendsten, mutigsten, aber auch riskantesten Schritt in der bis dahin 181-jährigen Firmengeschichte: dem Bau einer europaweit Maßstäbe setzen wollenden Medienlogistik mitten in Deutschland. Jetzt, da in Erfurt ein Insolvenzverwalter das Kommando führt, fragen sich viele: War der Aufbruch ins Thüringische der Anfang vom Ende? Hat KNV sich damit übernommen? Ein einfaches Ja würde der Komplexität dessen, was danach geschah, nicht gerecht.
Der seltsam verbaute Standort Stuttgart hatte keine gute Perspektive mehr. Die Idee, Verlagsauslieferung und Barsortiment in einer zentralen Logistik zusammenzuführen, galt auch verständigen Beobachtern des Zwischenbuchhandels als vielversprechend. Was erst die Praxis zeigte: Diese innovative Idee erwies sich als besonders schlecht beherrschbar. Zu ungleich die Geschäftsmodelle, zu divers die Bündelungen und Mengen, zu unverträglich das Nebeneinander von Kleinststruktur des Barsortiments und Großstruktur der Auslieferung. KNV begann, in selbstgeschaffener Komplexität zu versinken. Rückblickend schaut man auf eine Art Remake des Zauberlehrlings: Die Logistik-Geister entwickelten mächtig Spaß an der zunehmenden Überforderung dessen, der sie gerufen hatte. Das Chaos kostete sehr viel Geld. Geld, das man nicht hatte. Am Ende kommt, anders als in Goethes Ballade, kein Meister, der die Besen zur Ordnung ruft. Sondern der Insolvenzverwalter.
Ein Blick auf die Landschaft möglicher Investoren lässt die Hoffnung zu, dass in Erfurt wesentliche Teile der Struktur gerettet werden können. Dort steht nach einhelliger Bewertung von Fachleuten eine hoch attraktive Logistik zum Verkauf. Schon in den vergangenen Monaten sind im Gewerbegebiet "Kühnhäuser Straße" einige Interessenten übers Gelände geführt worden. Wer wird nun mitbieten? Mit wem wird der vom Amtsgericht Stuttgart bestellte Insolvenzverwalter Tobias Wahl Gespräche aufnehmen? Zu den "natürlichen" Kandidaten, über die in der Branche offen spekuliert wird, gehören:
- die VVA mit der Finanzkraft Bertelsmanns im Rücken;
- ein, zwei auf Buchlogistik spezialisierte Unternehmen aus dem Ausland;
- Lingenbrink im mehrheitlichen Eigentum einer der reichsten deutschen Unternehmerfamilien (wenngleich aufgrund dann entstehender Macht im Großhandelsmarkt diese Variante kartellrechtlich kaum haltbar erscheint – es sei denn, man beurteilt nicht den Barsortimentsmarkt isoliert, sondern den Markt der Buchlogistik gesamtheitlich);
- zwei sehr große Buchhändler;
- Logistiker anderer Branchen;
- Finanzinvestoren, denen die Logistik-Sparte lukrativ erscheint.
Wenn man den Blick weiter in die Zukunft richtet, spricht einiges dafür, dass die luxuriöse Ära einer dermaßen filigranen und dabei exklusiven Buchlogistik, wie sie in Deutschland hat entstehen können, abgelöst wird von einer Zeit der Öffnung hin zu anderen Versendern. Bereits zum Start des Komplexes an der A71 deutete KNV-Chef Oliver Voerster eine Ausweitung der Kampfzone an: Technisch sei Erfurt "für alles geeignet, was auf eine Palette passt und nicht zappelt". Die Ansage leuchtete damals schon ein. Nicht nur Buchverleger wollen Produkte in Innenstädte bringen lassen. Auf eine Struktur, die den Fluss der Waren bis in die feinsten Kapillaren des Wegenetzes sicherstellt, dürften manche bewundernd schauen. Schuhfabrikanten zum Beispiel, Textilproduzenten, Konsumgüterhersteller aller Art. Nicht-trivial in dieser Perspektive wäre allerdings, dass sich unterschiedliche Logistik-Systeme synchronisieren müssten.
Für die nächsten Monate eröffnet das Insolvenzverfahren nun neue Gestaltungsspielräume. Ein Teil der Schuldenlast kann abgeworfen werden – Stichwort "Haircut" der Banken. Die Gehälter der Mitarbeiter sind vorläufig sicher. Das insolvente Unternehmen kann ohne große Hürden so konfiguriert werden, wie es ein künftiger Eigentümer haben möchte. Anwartschaften auf Pensionen und laufende Renten werden vom Pensions-Sicherungs-Verein übernommen. All dies fördert die Geschmeidigkeit von Verhandlungen.
Das sind die positiven Aussichten. Aber die aktuelle Situation birgt eine für die Branche durchaus gefährliche Seite, die sich seit Anfang der Woche zuspitzt. Auslieferungen agieren in diesen Tagen äußerst vorsichtig und beliefern Erfurt teilweise nicht. Auch mehrere Verlage und Gruppen haben erst einmal den Zugriff auf ihre Ware im Barsortiment unterbunden. Mit seinen ersten Maßnahmen, insbesondere einem seit Montag kursierenden Lieferantenanschreiben hat es der Insolvenzverwalter, dem das Gericht einstweilen nur begrenzte Kompetenzen zuerkennt, nicht verstanden, Zuversicht in die Weiterbelieferung zu wecken.
Realistischerweise wird man davon ausgehen müssen, dass die Verlage einen Großteil ihrer offenen Forderungen an KNV in den Wind schreiben können. Für manche bedeutet das Verluste im mittleren sechsstelligen Euro-Bereich, für die Top-Häuser noch darüber. Die Betroffenen wären gut beraten, rasch zu prüfen, was das für ihre interne Kalkulation bedeutet, zumal der in Rede stehende Zeitraum aufgrund langer Zahlungsziele in eins fällt mit den für die Branche umsatzstärksten Wochen des Jahres und der entstandene Schaden entsprechend hoch ausfällt. In derart angespannter Lage treffen Aufrufe zur Solidarität mit dem gestrauchelten Riesen auf mäßige Resonanz. Liquiditätsentzug tut jedem weh, im schlimmsten Fall führt er zu weiteren Überschuldungslagen.
Um zu verstehen, was systemisch auf dem Spiel steht, wäre überdies die enorme Bedeutung eines Barsortiments für die Wirtschaftlichkeit kleinerer Buchhandlungen zu bedenken. Sie reicht weit über logistische Services hinaus, betrifft Betriebsberatung, Fortbildung, Warenwirtschaft, Marktforschung, das Non-Book-Geschäft, bisweilen sogar Hilfen zur Überbrückung finanzieller Engpässe. Unter dem Marktdruck der vergangenen Jahre hat sich die Beziehung zwischen Buchhändlern und ihrem Barsortiment in symbiotische Richtung entwickelt. Man stand, und steht, in Ko-Abhängigkeit. Ohne den einen werden die Schwierigkeiten des anderen größer.
Die Misere von KNV droht in der Buchbranche eine Kettenreaktion in Gang zu setzen, die unbedingt vermieden werden muss. Am ehesten wird das einem starken Insolvenzverwalter gelingen, einem schwachen womöglich nicht. Es ist zu hoffen, dass das Amtsgericht Stuttgart auch zu dieser Einsicht gelangt.
Wen meinen Sie mit "Alt" Geschäftsführer? Die GF welche für das Chaos in Erfurt verantwortlich sind?
Ja, KNV ist ein Traditionsunternehmen, aber mit Tradition hat das Unternehmen nichts mehr zu tun. Jeder redet von den 1.000 Arbeitsplätzen in Erfurt, aber keiner wie viele davon in Stuttgart und Köln vernichtet wurden. Auch wenn es einen Sozialausgleich gab, sind dort über 1.000 Mitarbeiter auf die Strasse gesetzt worden. Und dabei langjährige Mitarbeiter, die sich Jahr für Jahr im Weihnachtsgeschäft bis aufs letzte verausgabt haben. Man ging nach Hause, wenn das letzte Buch kommissioniert war, auch wenn es nach Mitternacht war.
Die GF trägt aus meiner Sicht den entscheidenden Anteil an der Misere. In letzten Jahren wurden einige Fehlentscheidungen getroffen die viel Geld vernichtet haben. Sei es der Kauf eines insolventen Büroartikelhändlers (der übrigens auch an seiner überdimensionierten Logistik erstickt ist) oder eben an dem Umzug nach Erfurt. Die Komplexität ist hausgemacht und man hat eine Logistik in Betrieb genommen, mit einem fast komplett neuen Personalstamm. Der Anteil der stuttgarter und kölner Kollegen in Erfurt geht gegen 0. Der Buchhandel ist speziell...wäre hilfreich gewesen, wenn man auch in der Logistik etwas kompetente und nicht branchenfremde Mitarbeiter in den unteren Bereichen gehabt hätte.
Davon mal abgesehen, ist Erfurt nicht unbedingt der optimal gewählte Standort in Deutschland. Man erreicht vielleicht den Norden besser, dafür aber nicht mehr Österreich und die Schweiz. Hatte alles vor und Nachteile und es war abzusehen, dass das passiert.
Hochmut kommt vor dem Fall.