Empfehlungen der Börsenblatt-Redaktion

Die Kunst der kleinen Form

26. Oktober 2018
von Börsenblatt
Auf wenigen Seiten eine komplexe Geschichte zum Tragen bringen: Das verlangt schriftstellerisches Können. Elf aktuelle Erzählbände – empfohlen von der Redaktion.

Welt hinter Gittern

Im Fernsehen schauen sie Seifenopern oder die Show von Oprah Winfrey – die Gefangenen, die Dawkins mit wenigen Strichen prägnant zeichnet. Aus dem Inneren heraus: Der Autor wurde wegen eines im Drogenrausch verübten Mordes zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Damit entstehen Einblicke in US-Gefängnisse, die so gar nichts mit einem Hollywood-Action-Reißer zu tun haben. Stattdessen geht es um kleine Fluchten, Freundschaften, Knast-Tattoos, die gewünschte oder befürchtete Verlegung in eine andere Haftanstalt – und um neue Zellengenossen, die kommen und gehen. Erhellend.  mg

Curtis Dawkins: "Alle meine Freunde haben wen umgebracht", Suhrkamp, 212 S., 14,95 €

Erfahrungen des Exils

Nach dem Verschwinden des Großvaters wird eine wohlhabende mexikanische Großfamilie auseinandergerissen: Die acht Erzählungen in "Denn sie sterben jung" enthüllen das Drama Schicht für Schicht, lassen Familienmitglieder jeden Alters zu Wort kommen. Über der schmerzlichen Erfahrung des Exils schwebt dabei fast greifbar eine Wolke der Angst. Sprachlich und stilistisch wird dabei so rasant gemixt, dass dieses Debüt (Autor Antonio Ruiz-Camacho ist Journalist) bisweilen unwillkürlich an eine Aufgabe eines Kreatives-Schreiben-Kurses erinnert.  kum

Antonio Ruiz-Camacho: "Denn sie sterben jung". C. H. Beck, 206 S., 19,95 €

Aufrüttelnde Einblicke

Die zwölf Geschichten treffen den Leser mit Wucht, zwingen ihn zum Nachdenken: Der seit 2016 im Gefängnis von Edirne inhaftierte Politiker und Autor beschreibt den türkischen Alltag aus den Blickwinkeln seiner Protagonisten, die Sehnsucht, die Willkür, die Tradition, das Staunen – ein Geschichtenerzähler, der im scheinbaren Plauderton die Alarmglocken läuten lässt. Danach bleibt kein Stein mehr auf dem anderen.  hc

Selahattin Demirtaç: "Morgengrauen. Storys", Penguin,142 S., 12,99 €

Unerwartete Begegnungen

29 Autorinnen aus Afrika, Asien, Lateinamerika und der arabischen Welt erzählen von Frauenleben, Träumen, Kämpfen und Emanzipationsprozessen. Welten stoßen aufeinander, es wird um Schicksale gerungen und der Leser bekommt tiefe Einblicke in fremde Kulturen. Lohnenswerte Lektüre, die berührt.  hc

Anita Djafari, Juergen Boos (Hrsg.): "Vollmond hinter fahlgelben Wolken. Autorinnen aus vier Kontinenten", Unionsverlag, 352 S., 14,95 €

Ekelpakete im Kammerspiel

Starke Dialoge und Mikrodramen als Kammerspiel: Diese Kurzgeschichten haben es in sich. Zu viel Mitleid ist nicht angebracht: Die meisten Protagonisten in diesem Band können ganz schöne Kotzbrocken sein, manchmal verdienen sie trotzdem Mitgefühl. Geeignete Lektüre für Leser, die sich an den allzu oft selbst gestrickten Katastrophen des Lebens genüsslich weiden können.  kum

Joshua Ferris: "Männer, die sich schlecht benehmen", Luchterhand, 288 S., 20 €

Manipulation, wohin man schaut

Oyeyemi verführt mit ihren Geschichten, die voller Neid, Hass, Erstaunen, Zuneigung, Liebe stecken, und immer wieder geht es um die Kunst der Manipulation, das Erringen der Macht über andere. Die Fabulierkünstlerin durchbricht die reale Welt des Jetzt und Hier hin zur phantastischen, mit geheimnisvollen Schlüsseln als Leitmotiv. Der Leser lauscht Oyeyemis Erzählfluss, bis er über unerwartete Handlungen und Gedanken ihrer Protagonisten erschreckt, in denen sich der Mensch als der Wolf des Menschen zu erkennen gibt.  hc

Helen Oyeyemi: "Was du nicht hast, das brauchst du nicht", CulturBooks, 256 S., 20 €

Abtasten der Wirklichkeit

Beobachtungen im Park, Reisen mit einer als Aufzug getarnten Zeitmaschine, Entscheidungen zwischen Ruhm und Liebe: Wells kombiniert alltägliche Szenen mit phantastischen Momenten und treibt die Erzählungen mit wohltemperierten Spannungsbögen ins Surreale. Sich zunächst in Harmlosigkeit tarnend, führen die Texte zur beklommenen Frage, ob die Fiktion nicht schon nahe an der künftigen Realität ist.  hc

Benedict Wells: "Die Wahrheit über das Lügen. Zehn Geschichten", Diogenes, 246 S., 22 €

Familienbande

Im Winter lag Hermanns Heimatort in einem von hohen Bergen gesäumten Tal im Wallis im Schatten, nur durch Skiausflüge auf höhergelegene Pisten konnte die Familie Sonnenstrahlen ereichen – in "Ein Sonntag" erinnert sich der Autor daran. Alle Erzählungen kreisen um seine Kindheits- und Jugendjahre in dem Tal, das er inzwischen verlassen hat. Hermann erschafft ein liebevolles, poetisches Porträt seiner Familie über drei Generationen hinweg, erzählt von unerfüllten Träumen und veränderten Lebenswelten. Dem allen wohnt ein Hauch Melancholie inne, etwa wenn er seinen Großvater auf dem letzten Winterschnitt seiner Weinreben begleitet.  mg

Rolf Hermann: "Flüchtiges Zuhause", Rotpunktverlag, 128 S., 22 €

Nur aus "ihrer" Sicht

Der Untertitel "17 Erzählungen über Sex und Macht" lässt auf viel Erotik schließen – die Bandbreite der Stoffe ist allerdings wesentlich weiter gefasst, auch wenn es oft doch um das körperliche Miteinander geht. Sei es eine Vergewaltigung, eine zuerst verzagte Abfuhr gegenüber dem übergriffigen Chef oder der Wunsch nach Dominanz und Hingabe: Die zahlreichen Facetten eines Themas werden hier ausschließlich aus Frauensicht beschrieben. Stilistisch sehr unterschiedlich präsentiert, ist "Sagte sie" gerade in Zeiten von #metoo ein wichtiger Beitrag.  gh

Lina Muzur (Hrsg.): "Sagte sie. 17 Erzählungen über Sex und Macht", Hanser, 224 S., 20 €

Fin de Siècle

Es ist eine Welt im Untergang, die der kurländische Schriftsteller impressionistisch arrangiert, und wir setzen die Beobachtungen beim Lesen zusammen. Meist stehen Aristokraten im Fokus, denen der Lebenssinn abhandengekommen ist, die schwärmerisch Glücksgefühlen nachzuspüren versuchen und sich desillusioniert ihrer Agonie ergeben. Melancholie und die Treibkräfte der Liebe geben sich die Hand in den 37 Erzählungen, in denen der Autor sprachlich Tragik und Komik ausbalanciert.  hc

Eduard von Keyserling: "Landpartie. Gesammelte Erzählungen", Manesse, 742 S., 28 €

Neue Dimensionen

Es ist zunächst Alltägliches, das unaufgeregt, aber präzise geschildert wird – etwa eine Begegnung auf einer Bahnfahrt oder eine Hochzeitsfeier. Doch dann kriecht Unerklärliches hinein: Der Phantomzeichner im Zugabteil kann künftige Freunde lebensecht skizzieren und die Braut sieht eine Ahnengalerie, in der schon ihre Nachkommen porträtiert sind. Durch die phantastischen Elemente, fern von Horror, öffnet Federspiel neue Denkräume, die nachhallen. Am Ende steht jeweils eine überraschende Wendung. mg

 Maurus Federspiel: "Die Vollendung", Holitzer Verlag, 182 S., 23 €