Bodo Kirchhoff von seiner bislang persönlichsten Seite
Er sitzt in jenem Hotel am Meer, das er früher mit seinen Eltern bewohnt hat und schreibt seine Geschichte nieder: Bodo Kirchhoffs Aufzeichnungen sind der Auftakt für seinen ersten autobiografischen Roman, betitelt "Dämmer und Aufruhr". Sein 70. Geburtstag am 6. Juli ist der Anlass für dieses Erinnerungsbuch. Und woran erinnert sich der Träger des Deutschen Buchpreises 2016 in dem Hotelzimmer seiner Kindertage? An die Trennung der Eltern, seine Zeit im Internat und die Anfänge seines Schreibens, die eng mit der Geschichte seiner Sexualität verwoben sind. Kirchhoff bringt dabei Bilder zu Papier, die man so schnell nicht vergisst.
Bodo Kirchhoff: "Dämmer und Aufruhr", Frankfurter Verlagsanstalt, 480 S., 28 €
Die unerwarteten Wendungen des Lebens
Nach 22 Romanen und der Auszeichnung mit dem Pulitzerpreis ist Anne Tyler beileibe kein Geheimtipp mehr; ihr neuer Roman erscheint weltweit zeitgleich am 10. Juli. Darin macht Tyler das, was sie am besten kann: die in den kleinen Dingen des Lebens verborgenen Bedeutungen freilegen. Ihre Protagonistin Willa Drake ist eine vollkommen durchschnittliche Frau. Die Schlüsselmomente ihres Lebens kann sie an einer Hand abzählen: das Verlassenwerden von der Mutter, der Heiratsantrag, der frühe Tod ihres Mannes. Doch dann trifft sie eine spontane Entscheidung, die sie nach Baltimore führt und ihr Leben in eine neue Richtung lenkt.
Anne Tyler: "Launen der Zeit", Kein & Aber, Juli, 350 S., 22 €
Familie als Wurzel der Identität
Auch Tim Parks ist ein längst etablierter Autor, der von den Kritikern verehrt wird. Sein aktuelles Buch sei ein "Meisterwerk", lobt etwa Nobelpreisjuror Per Wästberg. "In Extremis" ist ein dichter, existenzieller Roman, der den üblichen Parks-Unterhaltungscharakter nicht vermissen lässt. Es geht um Familie und Identität – und um den Tod: Thomas' Mutter liegt im Sterben. Doch da ist noch ein Vortrag, den er halten muss, bevor er in die Heimat fliegen kann. Überhaupt ist Thomas viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, als dass er sich auf seine todkranke Mutter konzentrieren könnte. Zu spät erst wird ihm klar, was Familie bedeutet.
Tim Parks: "In Extremis", Antje Kunstmann, September, 448 S., 24 €
Weltliteratur von Stevenson, wiederentdeckt
Nicht neu, aber in der Neuübersetzung von Lucien Deprijck eine besondere Perle unter den Herbstnovitäten: "Der Pavillon in den Dünen". Die Erzählung Robert Louis Stevensons erschien 1880, um 1930 folgte die erste deutsche Fassung. Nun gibt Mare den Klassiker neu heraus. Die Geschichte um den Abenteurer Frank Cassilis, der die Bankierstochter Clara Huddlestone umwirbt, wurde schon von Stevensons prominenten Zeitgenossen gefeiert. "Sherlock Holmes"-Schöpfer Arthur Conan Doyle etwa schrieb 1907, er halte sie für eine der bedeutendsten Kurzgeschichten der Weltliteratur. Was für eine Wiederentdeckung!
Robert Louis Stevenson: "Der Pavillon in den Dünen", Mareverlag, September, ca. 160 S., 20 €
Vom Wiener Caféhaus ins sowjetische Arbeitslager
Zwölf Jahre lang hat Steffen Mensching an seinem gewaltigen, mehr als 800 Seiten umfassenden Roman gearbeitet. Diese Zeit brauchte es auch, hatte er doch reichlich zu recherchieren: "Schermanns Augen" erzählt die Geschichte des polnischen Grafologen und selbst ernannten Hellsehers Rafael Schermann (1879 – 1945), der zwei Weltkriege durchlitten hat. Der Bruch in der Biografie könnte kaum größer sein: Für Schermann ging es von der Wiener Caféhausszene, wo er heitere Stunden mit Karl Kraus oder Anton Bruckner verlebte, ins sowjetische Lager Artek. Dort verbündete er sich mit dem deutschen Kommunisten Otto Haferkorn, mit dem er fortan im mörderischen Räderwerk des 20. Jahrhunderts ums Überleben kämpfte.
Steffen Mensching: "Schermanns Augen", Wallstein, Juli, ca. 800 S., ca. 28 €
Am Ende wird doch alles gut
In Italien ist Alessia Gazzolas "Warum ich trotzdem an Happy Ends glaube" (2016) ein Bestseller. Vom Feuilleton wird die Komödie um die ewige Praktikantin Emma als moderner Jane-Austen-Roman gefeiert. Warum die 30-jährige Emma keine feste Arbeit findet, weiß keiner genau, hat sie doch mehrere Abschlüsse in der Tasche und ehrgeizige Ziele. Sie träumt von einer Karriere in der Filmbranche, doch der Autor, dessen Manuskript sie auf die Leinwand bringen möchte, will ihr die Filmrechte nicht übertragen. Generell klappt es mit den Männern nicht so, wie Emma sich das vorstellt. Den Glauben an ein Happy End verliert sie dennoch nicht.
Alessia Gazzola: "Warum ich trotzdem an Happy Ends glaube", Thiele & Brandstätter, August, 272 S., 15 €
Ein Panorama des krisengeschüttelten Irlands
In ihrer Heimat Irland bekam Lisa McInerney für ihren Blog ("Ass End of Ireland") viel Aufmerksamkeit – auch von Schriftsteller Kevin Berry, der sie zum Schreiben ermutigte. Offenbar ein guter Rat, denn ihr Debüt "Glorreiche Ketzereien" wurde 2016 mit dem Baileys Women's Prize for Fiction und dem Desmond Elliott Prize ausgezeichnet. Die Story, die oft als schwarze Komödie daherkommt, spielt am äußersten Ende von Irland, in Cork, wo das organisierte Verbrechen den Ton angibt. Gewalt und Drogengeschäfte dürfen da nicht fehlen, aber in Lisa McInerneys Erstlingswerk geht es auch um das Erwachsenwerden und die erste Liebe.
Lisa McInerney: "Glorreiche Ketzereien", Liebeskind, 448 S., 24 €
Das Debüt einer Dichterin
"Ein gutes Verbrechen" ist Magdalena Jagelkes erster Roman. Dass sie bislang hauptsächlich Lyrik und Kurzgeschichten veröffentlicht hat, macht sich bemerkbar. Geschrieben ist die schlanke, rund 150 Seiten umfassende Erzählung in sparsamer Sprache. Elliptisch reihen sich die Sätze nach einem ganz eigenen Takt aneinander, der den Lesefluss antreibt. So saust der Rezipient mit Heldin Tara durch ihr turbulentes Leben: Im Teenageralter wird sie von ihrer Mutter verlassen. Tara geht daraufhin nach Paris, schlägt sich mit dem bisschen Geld durch, das ihr die Mutter überweist, und baut sich ein eigenes Leben auf – doch das Verlassenheitsgefühl bleibt.
Magdalena Jagelke: "Ein gutes Verbrechen", Voland & Quist, September, ca. 144 S., ca. 16 €
Eine starke Frau im Deutschland der Nachkriegszeit
Es ist das Schicksal einer Arbeiterfrau in den 60er Jahren, das der Mannheimer Steffen Herbold in "Die stramme Helene" erzählt. Nach einem durch Diktatur und Krieg geprägten Leben rappelt sich diese Helene langsam auf, weiß gar ein wenig vom Wirtschaftswunder zu profitieren. Eigentlich ist sie eine starke Frau, wäre da nicht der alkoholkranke und gewalttätige Ehemann. Doch auch auf diesem Gebiet emanzipiert sich Helene. Das Besondere an dieser rund 50 Seiten knappen Erzählung: die von Martin Burkhardt entworfenen Illustrationen. Die dichten Aquarelle fangen die Tristesse der von Herbold beschriebenen Nachkriegszeit punktgenau ein.
Martin Burkhardt, Steffen Herbold: "Die stramme Helene", Kunstanstifter Verlag, September, ca. 44 S., ca. 24 €
Der Lügenbaron ist zurück!
Mit der Figur des Hieronymus Carl Friedrich Freiherr von Münchhausen – besser bekannt als der Lügenbaron – verbindet man wohl in erster Linie den berühmten Ritt auf der Kanonenkugel. Doch das ist nur eine von zahlreichen fantastischen Geschichten über Baron Münchhausen – und eine weitere wird jetzt in deutscher Übersetzung erscheinen. Der russische Autor Sigismund Krzyzanowski (1887 – 1950) erzählt von der Rückkehr Münchhausens: Der inzwischen 200-jährige Lügenbaron fällt im Jahr 1919 vom Zeiger der Zeit direkt in die Bibliothek von Schloss Trianon, wo gerade die Versailler Konferenz abgehalten wird. Krzyzanowskis Roman wurde von Dorothea Trottenberg aus dem Russischen übertragen und erscheint im August bei Dörlemann.
Sigismund Krzyzanowski: "Münchhausens Rückkehr", Dörlemann, August, ca. 200 S., ca. 20 €
Ein intensiver Berlinroman
Die Neuausgabe von "In Berlin" ist erst der Auftakt für die umfassende Neuedition der Werke Irina Liebmanns (unter anderem Berliner Literaturpreis, Preis der Leipziger Buchmesse) bei Schöffling – und der hat es in sich: Es ist das Berlin Anfang der 90er Jahre, ein Berlin der Umbrüche, das Liebmann selbst hautnah erlebte und ebenso dicht beschreibt; mit Fokus auf den Menschen, die voller Hoffnung vom Osten in den Westen gehen und auch dort nur eine Sackgasse vorfinden. Die ab August erhältliche Neuausgabe des erstmals 1994 erschienenen Romans wird durch ein ausführliches Nachwort der Autorin ergänzt.
Irina Liebmann: "In Berlin", Schöffling & Co., August, 200 S., 20 €
Die unfreiwillig Zurückgekehrten
Eine Neuentdeckung auf dem deutschen Buchmarkt ist der auf Haiti geborene und heute in Paris lebende Autor Néhémy Pierre-Dahomey. 2017 unter dem Titel "Rapatriés" erschienen, feierte sein Romandebüt über die anrührende Geschichte der Belliqueuse Loussaint, genannt Belli, bereits in Frankreich Erfolge; ausgezeichnet unter anderem mit dem Prix Révélation. Nun gibt Nautilus die deutsche Erstausgabe heraus. Unfreiwillig kehrt Belli zurück nach Haiti, nachdem sie bei der illegalen Überfahrt Richtung USA Schiffbruch erlitten und einen Sohn ans Meer verloren hat. Mit ihrem Mann und ihren verbliebenen Kindern lässt sie sich in einer Siedlung mit dem Namen "Rückkehr" nieder. Nur einer ihrer Töchter winkt ein besseres Schicksal: das Entkommen aus einem der ärmsten Länder der Welt. Doch auch sie wird einmal zurückkehren.
Néhémy Pierre-Dahomey: "Die Zurückgekehrten", Edition Nautilus, September, ca. 192 S., ca. 19,90 €