Interview mit Schriftstellerin Åsne Seierstad

Anatomie der Wahrheit

1. März 2018
Redaktion Börsenblatt
Åsne Seierstad lotet in ihren Reportagen Extreme aus – auf der Basis von Fakten. Leipzig ehrt sie für ihr Buch über Anders Behring Breivik mit dem Preis zur Europäischen Verständigung.

Zeitgenössische Beobachter behaupten, wir würden bereits im postfaktischen Zeitalter leben. Haben sie recht damit?
Das kommt auf die Definition an. Ein Teil des Problems ist sicher, dass immer mehr Menschen in ihrer individuellen Wahrheit leben. Und es ist sehr gefährlich, einen US-Präsidenten wie Donald Trump zu haben, der Fakten verachtet, selbst wenn sie nicht zu leugnen sind. Ein Mörder wie Anders Behring Breivik, über den ich mein vorletztes Buch "Einer von uns" geschrieben habe, war nur fähig, einen Massenmord zu begehen, weil er sich zur Rechtfertigung seine eigene Wahrheit zurechtgezimmert hat: Europa wird islamisiert, unsere Regierungen verkaufen uns, die politischen Parteien sind Verräter und so weiter. Um das Verbrechen zu begehen, musste sich Breivik im Krieg befinden. Bei den "Zwei Schwestern", die in den Djihad zogen – das Buch darüber erschien 2017 – ging die Erzählung ähnlich: Norwegen hat keinen Respekt vor uns, unterdrückt uns, weil wir Moslems sind – deshalb gehen wir zurück in unsere wahre Heimat, den "Islamischen Staat".

In Ihren Büchern rekonstruieren Sie Leben und Taten außergewöhnlicher und im Falle Breiviks monströser Persönlichkeiten, ohne mit ihnen sprechen zu können. Wie gehen Sie bei Ihren Recherchen vor?
In mancherlei Hinsicht ist es so, als ob man über einen Toten schreibt – wie Historiker es meist tun. Was macht man in einem solchen Fall? Man spricht mit Bekannten, sammelt Zeugenaussagen oder sichtet Aufzeichnungen. In Breiviks Fall konnte ich mit vielen Personen aus seinem Umfeld sprechen und Einsicht in Vernehmungsprotokolle und Gerichts­akten nehmen. Bei den beiden Mädchen, die in den Djihad zogen, war es anders. Mit 16 und 19 hat man noch nicht so viel erlebt, dass man damit ein Buch füllen könnte. Die Schwestern waren aber von einem extremen Drang erfüllt, ihren Plan zu verwirklichen. Was mir beim Schreiben am meisten geholfen hat, waren die sozialen Netzwerke. Die Konversation der beiden mit ihrem Bruder konnte ich schwarz auf weiß in ihren Blogs nachverfolgen. Wenn man keinen direkten Zugang zu Leuten bekommt, ist jedes kleine Fundstück wertvoll.

Ihre Bücher lassen sich wie Romane lesen – obwohl es natürlich keine sind. Worin liegt der entscheidende Unterschied zur Belletristik?
Dem Genre nach kann man meine Bücher als literarische Sachbücher oder literarischen Journalismus bezeichnen. Die rote Linie zur Belletristik ist die zwischen Fakten und Fiktion. Das Literarische beschränkt sich auf das Storytelling, die Art, wie ich über die Fälle schreibe. Ich rekonstruiere Szenen wie in einem literarischen Text, und der Leser wird in das Buch wie in einen Roman hineingezogen – aber die Basis sind immer die Fakten. Es geht mir niemals darum, Lücken durch eigene Imagination zu schließen.

Um ein Buch über Breivik zu schreiben, muss man unerschrocken sein. Hatten Sie manchmal das Bedürfnis, der Geschichte zu entkommen?
Das war in diesem Fall nicht möglich. Denn die Geschichte Breiviks und seiner Opfer geht weiter und begleitet mich, im Gegensatz zu anderen Büchern, in meinem täglichen Leben in Norwegen.

Åsne Seierstad
  • Die norwegische Schriftstellerin und Journa­listin wurde 1970 in Oslo geboren und lebt in Norwegen.
  • Zuletzt erschienen bei Kein & Aber die Romane "Einer von uns. Die Geschichte eines Massenmörders" (544 S., 26 €) und "Zwei Schwestern. Im Bann des Dschihad" (528 S., 26 €).