Alle sind gegen Sexismus, klar. Keiner, der aufsteht und einem Frauenstammtisch ein lockeres "Ja, ich bin Sexist, und das ist gut so!" zuruft. Zu Recht herrscht überall Wut darüber, wie die Dominique Strauss-Kahns, Harvey Weinsteins und Bill Cosbys ihre Macht ausnutzten und Frauen zu Sexualobjekten machten. Unter "#Metoo" melden sich so tagtäglich Frauen zu Wort und berichten von Grabschereien, von Beleidigung, Anmache und Vergewaltigung. Und wie immer, wenn in unserer Gesellschaft Verfehlungen ans Tageslicht kommen, ist kein Halten mehr, melden sich sofort die Gesinnungspolizistinnen und Gesinnungspolizisten zu Wort und wollen normieren, was nicht zu normieren ist.
Gewiss, mit guten Gründen verzichten wir darauf, im Supermarkt nach Negerküssen und Mohrenköpfen zu verlangen, und auch das zu Konrad Adenauers Zeiten beliebte Zigeunerschnitzel hat an Akzeptanz verloren. Zur Not essen wir Balkanschnitzel. Wo Sprache frauenverachtend eingesetzt wird, wo sich ein historisch zu erklärender, unreflektierter Rassismus behauptet, da soll korrigiert werden – sofern das Kind nicht mit dem Bade ausgeschüttet wird. In Matthias Claudius' "Abendlied" muss meines Erachtens in den Schlussversen "Und lass uns ruhig schlafen! / Und unsern kranken Nachbar auch!" nicht zwingend eine "Nachbarin" eingebaut werden, um den sprachlich Hyperkorrekten gefällig zu sein.
Um es grundsätzlich zu sagen: Es ist richtig, übergriffigen Männern zu zeigen, welche Anzüglichkeiten, welche Schlüpfrigkeiten widerwärtig und würdeverletzend sind. Doch es ist gefährlich, wenn die aktuelle Diskussion Altherrenwitze oder weinselige Sätze à la Rainer Brüderles "Sie können ein Dirndl auch ausfüllen" vermengt mit körperlichen Einschüchterungen und Vergewaltigungen. Sexismus zu brandmarken, das ist gut und richtig, das Ansinnen verkehrt sich jedoch ins Gegenteil, wenn kriminelle Delikte und sabbernde Anmachen in einen Topf geworfen werden.
Und nicht zuletzt: Unsere Gesellschaft ist ungerecht, und wir können in allen öffentlichen Debatten versuchen, dem entgegenzuwirken. Doch es ist verheerend, wenn die Gesinnungspolizei dort eingreift, wo Gesellschaft gespiegelt, wo sie zur Literatur wird. Die Forderung, ein harmloses Gedicht des Poeten Eugen Gomringer von einer Berliner Hochschulwand zu entfernen, weil es in einer "patriarchalen Kunsttradition" stehe, ist absurd. Dass in den letzten Jahren die Bibel gendergerecht (und meist unschön) umgeschrieben wurde, dass man aus Kinderbüchern von Astrid Lindgren und Otfried Preußler heute als unangemessen empfundene Vokabeln eliminierte, daran hat man sich, viel zu schnell, gewöhnt – als sei ernsthafte Literatur je ein Ausbund des Korrekten und Unangreifbaren gewesen. Was ist eigentlich mit den Antisemitismen in den Wilhelm-Raabe- oder Fontane-Ausgaben?
Warten wir noch ein Weilchen, und es wird darum gehen, sexistische Passagen in der Literatur umzuschreiben, da sich Leserinnen und Leser bei der Lektüre verletzt fühlen könnten. Der lebensmüde Held in Christoph Höhtkers Roman "Das Jahr der Frauen", der skandalöserweise auf der Longlist des Deutschen Buchpreises stand, verteilt "Aussehensnoten", beschreibt Frauen als "Material" oder "Mischwesen aus Mensch und Haflinger". Unhaltbar, oder? Auch John Banvilles unsympathische Figur Oliver Orme (in "Die blaue Gitarre") erlaubt sich Dreistigkeiten, die als klar sexistisch zu bezeichnen wären. Raus damit also, oder? Genau, und am Ende haben wir eine Literatur, die so aufregend ist wie eine Folge "Berti Vogts liest aus dem Stuttgarter Telefonbuch".
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Ihr Martin Holtermann
Ich halte es für fatal Bücher umzuschreiben und damit Geschichte zu zerstören. Letzteres ist immer brand gefährlich. Man sollte sie im Kontext der Zeit verstehen und nicht verbiegen.
In der Sexismus Debatte kommt noch ein weiterer Aspekt zum tragen, nämlich die durch yougov bestätigte Tatsache, dass die Mehrheit in Deutschland das ganz anders sieht. Damit meine ich nicht Grabschen oder Vergewaltigung. Das ist klar. Aber in vielen Fällen wird übertrieben. Wenn ein Kompliment als Sexismus ausgelegt wird, dann kann man sich mal überlegen ob es nicht einer Debatte um Böswilligkeit bedarf.
obwohl ich Ihnen absolut zustimme, dass Literatur gestattet sein sollte, MUSS, auch und gerade die unschönen Wahrheiten unserer Gesellschaft wiederzuspiegeln, finde ich es doch gefährlich, einfach pauschal zu sagen, dass nichts verändert werden darf - einfach weil die Gefahr mit dem Spiegel dieser Wahrheiten ist, dass nicht reflektiert wird, was man da liest. Ein sehr schönes Beispiel ist Fight Club. Tyler Durden sollte zur Abschreckung dienen, ein Bild aufzeigen, wie man nicht werden sollte, es war nie vorgesehen, sich mit ihm zu identifizieren und ihn zu idolisieren - dennoch lese ich persönlich in tausenden Sexismusdebatten immer wieder das berühmte Zitat “Wir sind eine Generation von Männern, die von Frauen groß gezogen wurde.", als ob es etwas schlechtes wäre, als ob es etwas schlechtes wäre, als ob es irgendwen unmännlicher machen würde, eine Mutter zu haben. Tyler Durden, der inbegriff der toxischen Maskulinität, ist Kult geworden. Ich will jetzt nicht sagen, dass Fight Club umgeschrieben werden sollte, denn es ist ein großartiges Werk. Aber vielleicht wäre es manchmal gut, einen Interpretationsschlüssel dazu zu bekommen.
Sprache verändert sich mit jeder Veränderung in der Gesellschaft oder ist ihr sogar voraus. Ihre Vorstellungen und Wortwahl aber stammen anscheinend aus früheren Zeiten und anderen politischen Systemen. Noch dazu haben Sie ganz offensichtlich nicht den Hauch einer Ahnung von den Hintergründen, Zusammenhängen und Folgen des alltäglichen Sexismus für uns Frauen auf jeder Ebene, angefangen bei der sprachlichen. Informiert man sich heute nicht mehr, bevor man sich öffentlich äußert? Erst recht, wenn man sich als Mann über etwas äußert, das Frauen betrifft?
Dass das Börsenblatt Ihren übergriffigen Manipulationsversuch auch noch veröffentlicht, heißt nicht, dass die Sprache stehenbleiben oder sich wieder brav zurückbewegen wird. Sie mögen es als Mann Ihr Leben lang gewöhnt gewesen sein, sprachlich und gesellschaftlich im Zentrum allen Seins gestanden zu haben, aber das ist im 21. Jahrhundert nun wirklich keine Entschuldigung mehr dafür, sich als schreibender und sich öffentlich äußernder Mensch und als Leiter eines Literaturhauses so verzweifelt zu weigern, neue sprachliche Wege für die Zukunft und für eine tatsächlich auch mal sprachlich gleichberechtigte Gesellschaft zu denken und zu gehen.
Dafür brauchen wir heute aber keine solche Diffamierung, männliche Selbstherrlichkeit und Ewiggestrigkeit mehr. Wir brauchen auch keine Männer, die glauben, sie hätten das Recht, Frauen in Dingen, die Frauen betreffen, zu belehren. Wir brauchen Sachkenntnis, Respekt und Experimentierfreude. Ich dachte, in Literaturhäusern wäre das eine Selbstverständlichkeit.
Diese Art von Überheblichkeit ist einfach endlos ermüdend und frustrierend. Schon der erste Satz ist purer Hohn (Alle sind gegen Sexismus, wirklich? Wo?) und es wird nicht besser: ich weiß nicht, in welcher Welt Begriffe wie "Zigeuner" und "Neger" tatsächlich aus dem alltäglichen Sprachgebrauch verschwunden sein sollen - meine Erfahrung spiegelt das nicht wider. Im Gegenteil. Aber hey, offensichtlich hat Herrn Moritz noch niemand so betitelt bzw. ihm (natürlich als Kompliment) "nette Titten" hinterhergerufen - und dann muss er ja wohl recht haben.
Aber mal im Ernst: Frau Vogel übersieht (oder will übersehen) natürlich in grobem Maße, was Herr Kambylis schon schrieb: es geht nicht ausschließlich um das Schema "Mann = Täter, Frau = Opfer". Das ist viel zu kurz und eindimensional gedacht. Dass das in der Menge der Sexismusfälle mit weitem Abstand dennoch die Konstellation ist, wird ohnehin wohl niemand bestreiten. Wo Herr Moritz schon die Fälle Strauss-Kahn, Weinstein und Cosby benannt hat, möchte ich ebenfalls noch die Spacey-Vorwürfe in den Raum stellen: es können Frauen die Opfern von Männern werden, Männer die Opfer von Frauen, Männer von Männern, Frauen von Frauen. Eine Welt ohne Sexismus muss das Ziel sein, da bin ich ganz bei Ihnen. Aber dieses Ziel ist nicht allein für die Frauen da.