In Doris Knechts neuem Roman "Alles über Beziehungen" geht es um einen Mann namens Viktor, der als Kulturmanager arbeitet, seinen nahenden 50. Geburtstag fürchtet und vor allem danach strebt, in möglichst allen Wiener Bezirken über einen Vorrat beischlafwilliger Frauen zu verfügen. Viktor ist sexsüchtig, und er selbst weiß um diese Abhängigkeit, wenngleich er selbst dafür die Vokabel "hypersexuell" bevorzugt, da das in seinen Ohren nach "moderner Kulturtechnik" und "erotischer Kunstform" klingt.
So unangenehm es für den Einzelnen sein mag, wenn er als Sexsüchtiger jegliche Kontrolle verliert und seinem Tun hilflos ausgeliefert ist, so unstrittig ist, dass wir in einer Welt vielfältigster Suchtgefahren leben. Kaum schlagen wir morgens – sofern wir nicht unter Schlafsucht (Hypersomnie) leiden – die Augen auf, drohen wir dem ersten Begehren zu erliegen: Zu langes und wiederholtes Duschen kann auf eine unangenehme Waschsucht hinweisen. Kurz darauf besteht die Gefahr – nachzulesen unter www.beichthaus.com –, dem minzigen Geschmack der Zahnpasta nicht gewachsen zu sein und der Blend-a-med-Sucht anheimzufallen. Wenig später, nachdem wir wieder einmal bei Koffein schwach geworden sind, werden wir beim Anblick unseres Schuhwerks schwach und fallen der zwanghaften Putzsucht zum Opfer.
Fresssucht, Alkohol- und Drogenmissbrauch, Internetabhängigkeit, Handysucht, Schwindsucht, Laufsucht, Kartoffelchips-Sucht, Kuss-Sucht, Lakritz-Sucht – den ganzen Tag über sind wir umgeben von Fallgruben für unseren freien Willen, und den ganzen Tag über müssen wir – von den vielen Allergien und Lebensmittelunverträglichkeiten, unter denen wir neuerdings leiden, einmal abgesehen – versuchen, gegen alle Suchtpotenziale anzukämpfen. Wo da, nebenbei bemerkt, noch Zeit sein soll, seine Sexsucht auszuleben, sehe ich gar nicht.
Ich selbst rede in der Öffentlichkeit ungern über meine eigenen Süchte – ausgenommen mein nicht zu bezähmendes Verlangen, überall und allenthalben zu lesen. Nein, nicht nur Romane und Zeitungen. Nein, ich lese alles, was mir in die Quere kommt, suche schon beim Frühstück die Cornflakespackungen und die Frischkäseschachteln nach aufschlussreichen Texten ab, betrachte neugierig den Waschanleitungszettel in meinen Bekleidungsstücken und nutze den unvermeidbaren Gang zur Toilette, um die dort ausliegende "ADAC-Motorwelt" zu studieren und die Beschriftung der WC-Reinigerflasche en détail auf die richtige Anwendung der neuen Rechtschreibung hin zu überprüfen.
So bin ich schon eine halbe Stunde nach dem Aufstehen, noch ehe ich eine einzige Zeile des neuen Paul Auster wahrgenommen habe, höchst aktiv und freue mich darauf, beim Verlassen des Hauses auf lesenswerte Werbeflyer eines Drogeriemarkts zu stoßen und in den Augen vorbeieilender Passantinnen zu lesen. Bei all dem weiß ich natürlich, dass bereits um 1800 vor der Lesesucht, der »unmäßigen, ungeregelten, auf Kosten anderer nötiger Beschäftigungen befriedigten Begierde zu lesen« (Johann Heinrich Campe), gewarnt wurde, dass eine Madame Bovary ihren Untergang nicht zuletzt der zu intensiven Lektüre von (schlechten) Romanen zu verdanken hat und dass ein Buchhändler Chancen hat, demnächst deutscher Bundeskanzler zu werden.
Mir ist das egal: Ich bekenne mich zu meiner Lesesucht, zu meiner Hyperlektüre. Das hält mich übrigens davon ab, weit gefährlicheren Versuchungen zu erliegen. Vielleicht.
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