Debora Vogels "Die Geometrie des Verzichts" scheint eines jener Projekte zu sein, die einen Verleger mit Haut und Haaren zu verschlingen drohen. Angekündigt war das Buch einmal mit 300 Seiten, am Ende wurden es 680 ...
Christoph Haacker: Bücher haben ihre Geschichte, in diesem Fall sind es viele Geschichten. Die Herausgeberin und Übersetzerin Anna Maja Misiak hatte es zunächst einigen Verlagen angeboten, die eine längere Tradition haben als wir. Die haben sich viel Zeit gelassen und am Ende signalisiert: Wir sind nicht Feuer und Flamme für dieses Projekt. Als wir bereits mitten in der Arbeit am Buch stecken, hat einer dieser Verlage sich doch noch gemeldet und signalisiert: Wir wollen diesen Band unbedingt. Es spricht für die Übersetzerin, dass sie geantwortet hat: Ich habe einen Verlag! Sie hat, denke ich, verstanden, dass es für uns eine Herzensangelegenheit war und ist. Es hat sich herumgesprochen, dass unser Verlag, der für literarische Moderne steht, von der editorischen Betreuung solcher Projekte bis zum Verkauf eine durchaus konkurrenzfähige Alternative ist.
Ursprünglich sollte es eine Gedicht-Auswahl werden?
Stimmt, und das hätte auch seine volle Berechtigung gehabt. Im Gespräch mit der Herausgeberin hat sich dann ein völlig neues Projekt entwickelt: Wir haben nun weit mehr als einen repräsentativen Querschnitt durch das Schaffen Debora Vogels. Wenn man so will ein Gesamtkunstwerk, zu dem auch noch Illustrationen kommen, die von polnischen Künstlern der Moderne zu den Erstausgaben der Gedichte entstanden sind.
Sie haben an einer Stelle am Faden gezogen − und es kam immer mehr zum Vorschein?
Bei Autorinnen dieser Art kommt man schnell zu einer Grundsatzfrage: Soll man auf eine leicht vermarktbare Ausgabe setzen − die aber in mancherlei Hinsicht fragwürdig ist? Debora Vogel hat ja auch sehr bemerkenswerte Liebesgedichte geschrieben. Und ich bin sicher, dass eine entsprechende Auswahl ein kleiner Bestseller hätte werden können. Allerdings mit der Gefahr, die Autorin zu Unrecht zu reduzieren. Wir haben es aber mit einem enorm komplexen poetologischen Gebilde zu tun: Vogel hat mit Film oder bildender Kunst auf der Höhe ihrer Zeit korrespondiert; sie schreibt aber auch Essays über modernen Wohnen oder kapitalismuskritische Gedichte...
Das klingt fast ein wenig einschüchternd. Wie sollte man sich diesem hochkomplexen Werk denn am besten nähern?
Dieses Buch ist eine Zumutung im besten Sinn! Dahinter steckt zuallererst das Wort "Mut". Da ist der Mut der Autorin, kompromisslos ihre literarischen Konzepte durchzusetzen − obwohl sie vom Literaturbetrieb teilweise stark geschnitten wurde. Literatur darf uns etwas abverlangen, darf Ecken und Kanten haben! Wenn "Tristan und Isolde" uns keine Rätsel aufgeben würde, würden wir heute nicht mehr darüber sprechen. Das gilt für Debora Vogel ganz besonders. Das Buch hat im Wesentlichen vier Bausteine: Neben Gedichten und literarischen Montagen gibt es Essays und Briefe. Diese können ein Zugang auch zu ihrer Person sein: Wie ist das, in einem männerdominierten Literaturbetrieb zu schreiben? Wie ist das, in Polen auf jiddisch zu schreiben, in einer von ihr angenommenen Literatursprache, die nicht ihre Muttersprache war? Die Briefe wären schon mal ein guter Einstieg. Und natürlich sollte man sich auf die Gedichte einlassen, auch in ihrer Zweisprachigkeit. Dadurch, dass wir das Jiddisch nicht, wie zumeist üblich, Hebräisch notiert haben, sondern in einer Umschrift anbieten, kann man eine Idee von der Klanglichkeit des Originals bekommen.
Ist das nun ausgezeichnete Buch repräsentativ für Ihre Arbeit bei Arco?
Es ist bei uns im Verlag fast schon normal, dass wir solche Projekte stemmen. Und es gibt viele analoge Geschichten, die ich erzählen könnte. Wir machen etwa eine Ernst-Sommer-Ausgabe "Gesammelte Werke in Einzelbänden", wir stellen Paul Gurk, den vielleicht größten Unbekannten der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts, mit einer Werkausgabe vor. Viele werden jetzt fragen: Wer, bitte, waren Paul Gurk und Ernst Sommer? Mit dieser Frage sollte es losgehen! Bei Debora Vogel kommt noch etwas anderes hinzu: Ich stehe als Verleger hier stellvertretend für eine Autorin, die in ihrem Leben − eben weil sie sich nie Konventionen unterworfen und größtmögliche Freiheit bewahrt hat − nie einen Literaturpreis erhalten hätte! Für eine Autorin, die 1942 als Jüdin ermordet wurde. Jetzt bin ich als Verleger in der glücklichen Lage, dieser sehr traurigen Vorgeschichte eine glückliche Wendung zu geben.
Wie wichtig ist Ihnen, nach immerhin drei Nominierungen in Folge, der Preis der Hotlist?
Es ist eine tolle Bestätigung für unsere Arbeit. Gleichzeitig gibt es viele Verlage, die es verdient hätten, auf dem Treppchen zu stehen. Ich glaube, die diesjährigen Titel der Hotlist zeigen sehr schön, was kleinere unabhängige Verlage für die Vielfalt der Literaturlandschaft leisten! Die Hotlist ist eine Initiative von unten, die dem Literaturbetrieb guttut.
Über den Arco Verlag: Der Arco Verlag – benannt nach dem Prager Café, in dem es "kafkate, brodelte, werfelte und kischte", und mit Ernst Barlachs "Buchleser" als Markenzeichen – wurde 2002 in Wuppertal gegründet und wirkt seit 2009 auch von Wien aus. Seine Bücher bilden die Vielfalt der Literaturen und das Neben- und Miteinander von Völkern und Kulturen in Mitteleuropa ab. Der Verlag ist dabei auch zu einem Zuhause für Exilautoren wie Georg Kreisler, Fritz Beer, Jiří Langer oder Erika Mann geworden.
Über die Hotlist: Die Hotlist präsentiert die zehn besten Bücher des Jahres aus unabhängigen Verlagen des deutschsprachigen Raums. Sie wurde 2009 gegründet und wird vom gemeinnützigen Verein der Hotlist organisiert und ehrenamtlich getragen. Die Hotlist steht heute als dritter großer Preis der Buchbranche neben dem Deutschen Buchpreis und dem Preis der Leipziger Buchmesse. 2016 beteiligten sich 158 unabhängige Verlage am Wettbewerb, 4.874 Menschen nahmen an der Internetabstimmung über die Liste teil.
Eine Reportage zu Independent-Verlagen auf der Frankfurter Buchmesse lesen Sie im Börsenblatt Heft 43, das am kommenden Donnerstag erscheint.