Lesetipp

Zettels Botschaften

16. Februar 2016
von Stefan Hauck
Ein Buch voller poetischer Metaphern, um den Übergang von der Kindheit in die Jugend zu beschreiben: Stian Hole zeigt eine zaghafte zwischenmenschliche Annäherung in berührenden Bildern, fast fotografisch wirkende Figuren in einer sorgsam arrangierten Landschaft. "Morkels Alphabet" ist eine Hommage an die Natur und das Vertrauen, sich selbst Gedanken zu machen und eigene Perspektiven zu entwickeln. 

Einfach nur ein Buch zu machen, damit gibt sich Stian Hole anscheinend nicht zufrieden. Der norwegische Illustrator komponiert gerne Gesamtkunstwerke wie bei den Garman-Büchern und zuletzt bei "Annas Himmel". Das fängt bei der visuellen Ouvertüre im Vorsatz an, die ihre Entsprechung im Nachsatz hat, setzt sich auf der sorgsam gestalteten Schmutztitelseite fort, die mit ausgerissenen Zetteln in die Geschichte hineinführt: Kleine Botschaften wie "Hallo" oder "Die Laubsänger sind schon weg" sind es, die Anna auf dem gefrorenen Ackerboden findet. Als Anna "Wer bist du?" auf einem Zettel zurücklässt, entspinnt sich bald ein zarter Dialog zwischen dem geheimnisvoll wirkenden Morkel, ein Gleichaltriger, den Anna schließlich in einem Baumhaus findet.

Morkel sammelt Wörter, vom Schulbesuch hält er nicht viel, ein charismatischer Eigenbrödler, der in die Natur hineinlauscht und die die leisen Töne seiner Umwelt geradezu in sich aufsaugt. Von Morkel und seiner Wortspurensuche angezogen und angesteckt, freundet sich Anna an: Hole zeigt die zaghafte Annäherung in berührenden Bildern, realistisch, fast fotografisch wirkende Figuren in einer sorgsam arrangierten Landschaft - gerade das Aufeinanderprallen der teils bühnenbildartig flächig wirkenden skandinavischen Natur mit den wie Collagen ausgeschnittenen fotorealistischen Jugendlichen erzeugt diese bizarr-magischen Momente. Der in Oslo lebende Grafiker animiert den Betrachter in leisen Texten und Bildern zum genauen Hinschauen, eine Hommage an die Natur und das Vertrauen, selbst zu sehen, sich selbst Gedanken zu machen, eigene Perspektiven zu entwickeln.

Dann verschwindet Morkel, und Anna sucht. Sucht in der endlosen Weite des Schnees, Fußspuren, die der Betrachter wie auf einer Wanderkarte nachvollziehen kann, träumt sich den Jungen herbei, bis sie im Frühling auf dem ersten frischen Grün der Wiesen weiß, was sie tun muss: Zettel auslegen, eine ganze Armada von Zetteln, wahre Suchtrupps, die Morkel herbeifragen. Und es funktioniert: Eine auftauchende Schatzkarte weist ihr den Weg, und Anna rennt los. Ein Buch voller poetischer Metaphern, um den Übergang von der Kindheit in die Jugend zu beschreiben.

Stian Hole: "Morkels Alphabet". Hanser, 48 S., 14,90 Euro