Wenn an Heiligabend Familien vorm Krippchen sitzen, die Kinder Ochs und Esel, Maria und Josef, Schäfchen und Jesuskind im Stall an die rechte Stelle rücken, dann wird vielerorts vor der Bescherung die Weihnachtsgeschichte vorgelesen. Wer die Botschaft dahinter begreifen will, dem sei das am 18. Dezember erschienene Bilderbuch "Die Weihnachtsgeschichte?" bei Baumhaus empfohlen. Zunächst erzählen Tobias Holland, Timm Weber und Andreas Brunsch den Evangelientext in seinem traditionellen Verlauf mit zeitgemäßen Worten nach, illustriert von Corinna Becher sowie Daniel und Christina Ernle in leicht flächiger, an Collagen erinnernder Manier.
Der Leser könnte denken: Kenn ich, alles vertraut, aber die - nennen wir sie ruhig Pointe - kommt zum Schluss: Maria und Josef lassen die Geschenke der drei Weisen zurück und flüchten mit Jesus und dem, was sie am Körper tragen. Ihr Ziel: Sich vor den Soldaten in Sicherheit zu bringen und das Land zu verlassen. "Doch als sie an die Grenze kamen, war da eine Mauer aus Menschen", geht die Erzählung weiter, Menschen, die weder freundlich schauen noch gewillt sind, die Flüchtlinge einreisen zu lassen. Und nun?
Spätestens jetzt wissen die Leser, wie aktuell die 2.000 Jahre alte Weihnachtsgeschichte im Dezember 2015 in Deutschland ist. Und wer viele der nostalgisch anmutenden Weihnachtslieder einmal auf ihren Text hin betrachtet, dem fallen die sozialkritischen Töne sehr wohl auf. "Lasst mich ein, ihr Kinder, / ist so kalt der Winter, / öffnet mir die Türen, / lasst mich nicht erfrieren!", ist wieder aktuell. Im Bilderbuch "Die Weihnachtsgeschichte" heißt es weiter: "Da mussten Maria und Josef mit Jesus umkehren und zurück in ihr Land gehen." Logisch, dass sie Angst um ihr Leben haben. "Denn sie wussten, die Soldaten des Königs würden sie schon heute Nacht finden." Eine Geschichte, die uns aus unseren verklärenden Ochs-Esel-Krippchen-Vorstellungen herauskatapultiert in eine Wirklichkeit, die Leser vor 2.000 Jahren sehr wohl zu deuten wussten.