Nach fast 20 Jahren bei den Vandenhoeck & Ruprecht Verlagen, davon 15 Jahre als Geschäftsführerin, verlassen Sie das Unternehmen zum Jahresende in Richtung Erwachsenenbildung. Haben Sie genug oder fehlte am Ende der Spaßfaktor?
Am Spaß liegt es sicher nicht. Das Verlagsgeschäft ist so interessant, weil man es mit tollen, engagierten Menschen zu tun hat, sowohl in den Verlagen als auch in der Autorschaft. Wenn man dann auch noch in einem Fachbuch- und Wissenschaftsverlag unterwegs ist, hat man es zudem vornehmlich mit relevanten Inhalten zu tun, bei denen es sich lohnt, sie aufzuspüren und zu verbreiten. Hört man sich dann aber nach 15 Jahren in derselben Position erstmalig sagen: "Das haben wir schon versucht …", dann kann es sinnvoll sein, über Veränderung nachzudenken.
Kam es zu Meinungsverschiedenheiten zwischen Ihnen und den Gesellschaftern über den künftigen Kurs des Verlags?
Nein, Meinungsverschiedenheiten gab es keine. Alle wichtigen Entscheidungen wurden gemeinsam und einstimmig gefällt, so auch die Übernahme der Böhlau-Unternehmen. Die Zeiten werden aber nicht einfacher, sodass wir uns kontinuierlich mit der Frage auseinandersetzen müssen, wie es gut weitergehen kann. Im Gesellschafterkreis vollzieht sich ein Generationswechsel. Unsere sogenannten Altverleger, Arndt, Dietrich und Ulrich Ruprecht, haben sich mit über 90 Jahren aus der aktiven Tätigkeit zurückgezogen. Die siebte Generation, der elf Familienmitglieder angehören, vertritt nun die Gesellschafterinteressen und bestimmt damit unseren Kurs. Da zeigen sich durchaus veränderte Erwartungshaltungen im Hinblick auf das, was ein Verlag in diesen Zeiten als Wirtschaftsunternehmen zu leisten hat. Aber dabei gibt es keine Dissonanzen.
Die veränderten Erwartungshaltungen waren aber kein Grund, um an Ihrer Führung zu zweifeln?
Unter der sechsten Generation gab es das zentrale Ziel, als geistig unabhängiger, breit aufgestellter Verlag qualitätsorientiert Inhalte zu generieren und dabei natürlich auf Rentabilität zu achten. Daraus habe nicht nur ich viel Motivation und Überzeugung gewonnen. Für die nicht immer erfreulichen Entwicklungen in unserer Branche fanden wir bei den Eigentümern ein offenes Ohr. An diesem Punkt verändert sich die Tonalität, was legitim ist. Ich habe mir nur ganz persönlich die Frage gestellt, ob ich diese Gabelung nicht nutzen sollte, um selbst noch einmal einen anderen Weg zu gehen, andere Erfahrungen zu sammeln und woanders neue Akzente zu setzen.
Könnte es eine Option für die neue Gesellschaftergeneration sein, den Verlag zu veräußern?
Solche Mutmaßungen wurden und werden immer mal wieder angestellt. Wie in der Vergangenheit, werden wir uns zu diesen Spekulationen nicht äußern.
V & R hat einen komplexen Integrationsprozess hinter sich, vor allem durch die Eingliederung von Böhlau und der Theologie-Sparte des Neukirchener Verlags. Ist der Verlag jetzt besser aufgestellt für die Herausforderungen, vor denen die Branche steht, als etwa vor drei Jahren?
Ja, vor allem, weil das Böhlau-Programm wunderbar an den geisteswissenschaftlichen Schwerpunkt von V & R andockt und dennoch ganz eigene Akzente setzt. Die Verlagsgruppe ist durch die Integration der Zukäufe – zu denen auch der Verlag Antike gehört – nicht nur größer geworden, sondern auch ein noch relevanterer Ansprechpartner für Bibliotheken, Institutionen und sonstige Vertriebspartner. Die Verlagsgruppe ist durch die Zukäufe auch komplexer geworden, weil wir versucht haben, die Charakteristika aller Marken zu erhalten. Wir haben damit nicht nur Synergien geschaffen, sondern können auch die externen Standorte mit relevanten Mitarbeiter*innen und Netzwerken weiterführen. Das war ein anspruchsvoller Prozess.
Während Ihrer Zeit als Geschäftsführerin haben sich die Rahmenbedingungen für das Verlegen spürbar verändert, man könnte auch sagen, verschlechtert. Leidet ein Verlag wie V&R unter der Schwächung des Urheberrechts?
Ein Unternehmen muss auch unter veränderten Rahmenbedingungen so arbeiten, dass es wirtschaftlich erfolgreich sein kann. Im Zuge der Digitalisierung haben wir die Verlagsarbeit komplett neu erfunden und vieles in Frage gestellt, was vorher unantastbar war. V&R hat zusammen mit V&R unipress früh angefangen, Inhalte und Geschäftsprozesse zu digitalisieren. Das ist für einen Mittelständler ein andauernder Kraftakt, der von einer erstaunlich langsamen Entwicklung der digitalen Erlöse erschwert wurde. Eingriffe wie die Wissenschaftsschranke, parallel dazu der Wegfall der Verlegerbeteiligung und die Rückzahlung von bereits wieder investierten VG Wort-Ausschüttungen bedeuten in solchen Investitionsphasen dramatische Einschnitte. Die erste positive politische Entscheidung, an die mich in 15 Jahren als Geschäftsführerin erinnere, ist tatsächlich der ermäßigte Mehrwertsteuersatz für digitale Verlagserzeugnisse. Diese Korrektur bisheriger Missstände wird sich innovationsfördernd auf Kombinations- und hybride Produkte auswirken. Und solche Innovationen sind dringend nötig.
Ist die Produktion von Lehrbüchern noch ein tragfähiges Geschäftsmodell?
Mit der Wissenschaftsschranke wurde eine Kopier- und Scanpraxis an den Universitäten legitimiert, die eh seit vielen Jahren Usus war. Das Vogel-Urteil und das Aussetzen des Verlegeranteils hat dann zusätzlich eine wichtige Verdienstmöglichkeit eliminiert. Mit dem rückläufigen Absatz in diesem Segment verlieren wir zudem einen Zugang zu einem wichtigen Autorenmarkt, denn Studierende und Dozent*innen mit interessanten Produkten anzusprechen, ist auch ein Entrée dafür, sie später als Autor*innen für den Verlag zu gewinnen. Das klassische Lehrbuch verhält sich heute leider ähnlich wie eine gute Monografie im Bibliotheksgeschäft. Daher arbeiten wir schon länger an einem Lehrwerkkonzept, das versucht, den Zugang zur Lehre zu erhalten, indem es didaktisierten Content in eine technische Umgebung stellt, die den Dozent*innen ganz praktisch ihre Arbeit erleichtert.
Wie hat sich die Open-Access-Bewegung auf ihre Arbeit ausgewirkt?
Open Access ist existenziell für uns. Für einen Verlag, dessen geisteswissenschaftliche Publikationen zu großen Teilen immer schon durch Zuschüsse mitfinanziert wurden, ist der Übergang zu Open Access zumindest mental kein großer Schritt. V&R und Böhlau haben mittlerweile beachtliche Open-Access-Anteile im Programm, obwohl unsere Autor*innen vielfach noch am klassischen Verlegermodell hängen. Wir sind hier allerdings stark mit Einzelprojekten unterwegs. Die Transformation ganzer Programmteile, von Reihen oder Periodika ist in unserer Größenordnung ein Problem, da wir allein keine wirklich gute Verhandlungsposition haben. Aber daran arbeiten wir.
Wie sieht die Vertriebssituation aus? Haben Sie den Eindruck, dass V&R im Buchhandel ausreichend präsent ist?
Ich bedaure persönlich schon, wie viele gut sortierte Buchhandlungen über die Jahre verschwunden sind und dass das jahrelange Wettrüsten der beiden großen Barsortimente eine zuvor vorbildliche Vertriebssituation in Deutschland gefährdet hat. Für V&R hat das Sortiment aber nie die Rolle gespielt wie für publikumsnähere Verlage. Wir sind mit einer hohen Spezialisierung unterwegs und schon relativ früh aus den Regalen verschwunden. Im Besorgungsgeschäft ist der Buchhandel für uns nach wie vor der wichtigste Vertriebspartner – rund 80 Prozent unseres Umsatzes generieren wir so. Unsere Endkund*innen suchen unsere Angebote vor allem über das Internet, weshalb wir uns stark um exzellente Metadaten und eine gute Sichtbarkeit unseres Programms in Suchmaschinen und Fachportalen kümmern. Das schafft Nachfrage, die der Buchhandel abschöpft oder wir selbst mit Website und eLibrary. Hier sind die Zeiten für uns eher besser geworden.
Wie entwickeln sich die Auflagen?
Die gehen kontinuierlich zurück, sowohl in der Wissenschaft als auch im Fachbuch. Da geht es uns nicht anders als der gesamten Buchbranche. Das bedeutet also: Prozesse immer weiter rationalisieren, verschlanken, standardisieren, quasi eine Industrialisierung des Geschäftsmodells vorantreiben, um die Wirtschaftlichkeit zu erhalten. Was jetzt endlich wirklich wächst, sind die digitalen Umsatzanteile, leider nicht ausreichend, um die Rückgänge in Print ganz zu kompensieren. Zudem stellen wir fest, dass mit einer guten Durchdringung des Marktes mit digitalen Produkten die Nutzung zwar steigt - was für die Verbreitung der Inhalte ja gewünscht ist - sich aber auch der Rückgang an Printprodukten zu beschleunigen scheint. Also erhöhen wir eben die Print-on-Demand-Produktionen und versuchen es mit lagerfreier Lieferbarhaltung. Lösungen gibt es immer. Ich hoffe, das wird unser Haus auch zukünftig anspornen.
Carola Müller verlässt die Vandenhoeck & Ruprecht Verlage zum 1. Dezember und übernimmt die Leitung der VHS Göttingen Osterode.