Die meisten 11-Jährigen haben heute ein eigenes Smartphone. Mobbing, Gamingsucht, Pornografie: Wie groß sind denn die Gefahren, die Smartphones und der Zugang zum Internet heute tatsächlich ins Kinderzimmer tragen?
Die Gefahren sind gigantisch und auf den ersten Blick nicht zu erkennen. Handyspiele machen extrem süchtig, denn viele Mechanismen erinnern an das klassische Glücksspiel im Casino. Da fallen mir die Lootboxen in den Handyspielen ein. Das sind virtuelle Truhen mit zufälligen Belohnungen. Außerdem gibt es die Like-Sucht in den Sozialen Medien, bei Teenagern die Online-Dating-Sucht und generell die Tendenz, in den digitalen Welten anerkannt und beliebt zu sein. Da entsteht ein massiver sozialer Druck. Wer sich keine Pornografie anschaut, macht sich in der WhatsApp-Gruppe der Clique zum Außenseiter. Das kann zu Mobbing-Attacken führen. Dank Smartphone sind die Kids rund um die Uhr erreichbar, also stürzen die Gefahren wasserfallartig ins Kinderzimmer, wenn die Eltern keine knallharten Regeln aufstellen.
Handyfahrplan & Co.: Was können Eltern konkret tun, um ihrem Nachwuchs fit in Sachen Smartphone-Nutzung zu machen?
Sind wir doch mal ehrlich: Die Kinder kennen sich am Smartphone sowieso besser aus als die Erwachsenen. Deshalb ist es als Elternteil wichtig, die digitalen Geräte und Apps selbst zu testen, denn nur dann kann ich mitreden und Ratschläge geben. Natürlich ist es ein guter Trick, als Mama oder Papa einen auf ahnungslos zu machen, um sich von den Kids die Funktionen und Apps erklären zu lassen. So bekommt man auch einen Einblick, mit wem die Kids Kontakt haben. Ich bin der Meinung, dass die Eltern einen Handyfahrplan für ihr Kind entwickeln sollten, also beispielsweise zehn Regeln, die eingehalten werden müssen. Mir fallen direkt drei Beispiele ein. Erstens: Das Smartphone muss nach dem Abendessen, also über Nacht, abgegeben werden. Zweitens: Bilder dürfen nur in Absprache mit den Eltern verschickt und als Profilbild hochgeladen werden. Drittens: Kein Instagram und andere Soziale Medien, in denen es um Likes und Anerkennung geht.
Gibt es überhaupt Steuermöglichkeiten seitens der Eltern, die nicht im Nu von Kindern umgangen werden können?
Von diesen ganzen Sperren und Überwachungsmöglichkeiten halte ich überhaupt nichts. Vor allem Tracking-Apps, mit denen die Eltern den Standort des Kindes ausspionieren, finde ich schrecklich. Ich setze da voll und ganz auf die altmodischen Steuermöglichkeiten. Wie die aussehen? Zeit in der echten Welt miteinander verbringen. Lagerfeuer, Radtouren und Wanderausflüge sind eine schöne Möglichkeit. Es gibt nämlich viele Dinge auf dieser Welt, die spannender sind als ein Smartphone. Dazu gehören auch Gespräche über Gefühle, die die Kinder in ihrem Selbstwert stärken. Ein glückliches Kind muss sich die Selbstbestätigung nicht von Fremden aus dem Internet holen. Der Trick ist also, den Kids jeden Tag eine schöne und erfüllende Zeit zu schenken. Das gilt übrigens auch für uns Erwachsene und den Umgang mit unseren Mitmenschen.
Welche Aspekte der Medienerziehung kommen in Ihren Augen zuhause und an den Schulen zu kurz?
Die Schulen sind stolz auf ihre digitale Ausstattung wie Tablets und schnelles Internet. Das ist schön, bringt aber nichts, wenn weder die Lehrkräfte noch die Kids damit medienkompetent umgehen können. Aus diesem Grund habe ich ja auch das Schulfach Digitalkunde entwickelt, für dessen Einführung ich plädiere. Die digitale Mündigkeits der Kids muss gestärkt werden, also ein Verständnis für Demokratie, Umgang mit Fake News und Populismus.
Verdrängt das Smartphone bei den Jugendlichen tatsächlich die Bücher? Lesen „Smombies“ nicht oder machen Kinder auch literarische Ausflüge mit dem Smartphone?
Ja, das Smartphone verdrängt bei Kindern und Jugendlichen das klassische Lesen mit Buch in der Hand. Da kenne ich sogar einen krassen Fall. Ein Kind bekommt ein Buch in die Hand gedrückt und versucht wie beim Smartphone mit den Fingern zu swipen, um auf die nächste Buchseite zu gelangen. Ich muss die Smombies aber in Schutz nehmen. In vielen Spielen ist Textverständnis gefragt, sonst können die Aufgaben, auch genannt Quests, nicht gelöst werden. Außerdem entwickeln die Kids ihre eigene Jugendsprache, schreiben sich lange Nachrichten über WhatsApp und beteiligen sich an politischen Diskussionen in Internetforen. Ich bin der Meinung, dass gerade im Deutschunterricht mehr mit dem Smartphone gearbeitet werden muss, um Poesie und Kurzgeschichten zu verfassen oder Auszüge aus Büchern direkt am Smartphone zu lesen. Die Kinder sind nicht blöd, sie werden einfach falsch gefördert.
Gerade ist von Frederik Weinert im Tectum Verlag das Buch „Hilfe, mein Kind ist ein Smombie“ erschienen (20 Euro).
Da werden ganze Kongresse veranstaltet, zuletzt am 31. Januar an der Uni Mainz, hochrangige Forscher bemühen sich - auch international - um valide Ergebnisse, wie sich das Lesen angesichts der neuen digitalen Medien entwickelt! Aber im Börsenblatt wird die krude, einfache Wahrheit eines Frederik Weinert verkündet: „Das Smartphone verdrängt das klassische Buch“. Gerade erst konnte man der KIM Studie 2018 das Gegenteil entnehmen. Dieser „Medienforscher“ kann ja eine Meinung haben, er mag seine Traktate veröffentlichen, aber müssen wir solche PR-Artikel ertragen? Wir brauchen keine Gegner, wenn wir solche „Medienexperten“ in den eigenen Reihen zu Wort kommen lassen: Leute, die mit Begründungen wie „Da kenne ich sogar einen krassen Fall“ oder Anbiederungen wie „Sind wir doch mal ehrlich“ arbeiten. Die ständige Wiederholung solcher Phrasen trägt dazu bei, dass wir bald selbst daran glauben – bzw. dran glauben müssen.
Ulrich Störiko-Blume