Im Jahr 2001 veröffentlicht Catherine Millet, eigentlich Modejournalistin, Kunstkritikerin und Chefredakteurin mit gewissem Bekanntheitsgrad, Das sexuelle Leben der Catherine M., in dem sie ihre zahllosen Affären genau auflistet und bereitwillig ins Detail geht. Die Sexspiele der Catherine M. finden selbstverständlich nicht im profanen Ehebett statt, sondern überall sonst: auf Autobahnraststätten, auf Friedhöfen, in Besenkammern, in Swingerclubs, in allen anatomisch denkbaren Stellungen, mit unzähligen wechselnden, manchmal auch mehreren Partnern. Parallel zu diesem Buch publizierte Millets Ehemann, Jacques Henric, dem die außerehelichen Affären seiner Frau, die sie so bereitwillig mit der Öffentlichkeit teilte, gar nichts auszumachen schienen, einen Bildband mit Aktfotos seiner Frau. Kritiker sahen in dem Ehepaar, das da sein Sexleben vermarktete, beinahe ein mittelständisches Unternehmen. Man vernahm also ein Duett auf die vollkommen geglückte eheliche sexuelle Befreiung. Und der Erfolg gibt den Ehepartnern recht. Anfangs druckt der Verlag zwar noch »verhaltene« 4000 Exemplare (»verhalten« natürlich in Relation zur Startauflage zum Beispiel von Fifty Shades of Grey, welche alleine in Deutschland bei 500.000 lag). Die Autobiografie verkauft sich jedoch schließlich über zwei Millionen Mal und wird in 45 Sprachen übersetzt. Millet ist auf allen Buchmessen, in sämtlichen Talkshows weltweit zu Gast, liest und diskutiert, erhält von der Times den durchaus gewöhnungsbedürftigen und nicht zwingend schmeichelhaften Beinamen Das sexuelle Leben der Catherine M. 188 »Madame Sex«. Millet wird also binnen kürzester Zeit zur Marke stilisiert.
Konservative Stimmen begehren rasch auf und wollen ein Verbot des freizügigen Sex-Reports der 1948 geborenen Chefredakteurin der Kunstzeitschrift art press erwirken. Das Buch wurde auch vom überwiegenden Teil der Kritik negativ aufgenommen – eine weitere Parallele zu den Fifty Shades of Grey, im L’Express etwa wurde geurteilt: »(...) erweist sich als ziemlich langweilig und ohne großes literarisches Interesse (...)«, besitzt aber »unbestreitbare Aufrichtigkeit«.
Für ihr Buch erhielt Millet den nach Marquis de Sade benannten De-Sade-Preis, der in Frankreich für kontroverse Literatur verliehen wird. Auch wenn sie sich selbst nicht als Autorin sieht, erschienen in den weiteren Jahren drei weitere, ebenso autobiografische Bücher, zuletzt 2014 Eine Kindheit der Träume. Darin beschrieb sie die Zerrissenheit ihrer Familie, wie sie sie als Kind erlebt hatte, ihre Angst auf dem Schulhof und die Gefühle nach dem Selbstmord der Mutter.
Catherine Millet bleibt jedoch auch abseits der Literatur eine umstrittene Persönlichkeit. Im Januar 2018 war sie eine der knapp über hundert Mitzeichnerinnen (wie etwa auch Catherine Deneuve) des offenen Briefes, der den Titel Wir verteidigen die Freiheit, lästig zu sein trug und sich gegen die Vorverurteilung von Männern im Zuge der Me-Too-Debatte aussprach. Millet bekräftigte ihre Meinung, dass Männer schon wüssten, wo ihre Grenzen wären, wenn man sie ihnen aufzeigt, wie sie in einem FAZ-Interview, mit einem persönlichen Erlebnis unterstreichen wollte: »Ich erinnere mich an ein Mal, da hat sich im Bus ein Mann an mir gerieben, da habe ich mich umgedreht und ganz laut gesagt: ›Monsieur, würden Sie bitte aufhören, Ihren Penis an mir zu reiben.‹ Ich kann Ihnen sagen: Er hat sofort damit aufgehört. (...) Wem es damit anders geht, der kann zur Polizei gehen, und damit hat sich die Sache.«
Bei einer Podiumsdiskussion zur Me-Too-Debatte im Februar 2018, sagte sie, dass es besser sei, sich vergewaltigen zu lassen als sich zu widersetzen und womöglich dabei getötet zu werden. Millet hatte höchstwahrscheinlich auf den Fall der Anne Das sexuelle Leben der Catherine M. 189 Lorraine Schmitt gedacht, die im November 2007 von ihren Vergewaltigern ermordet wurde, als sie sich zu wehren versuchte. Der Vater Schmitts nannte Millets Position daraufhin in einer öffentlichen Stellungnahme »absolut abstoßend«.
Literarisches Genre: Autobiografie (2001)
Herkunftsland: Frankreich
Originaltitel: La Vie sexuelle de Catherine M.
Dieser Text stammt aus dem Buch "Skandal. Die provokantesten Bücher der Literaturgeschichte! von Clemens Ottawa.