Ein grotesker Anti-Porno, auf rund 250 Seiten, eine Auseinandersetzung von Vorwänden, um von einer Stellung zur anderen, von einem Abspritzen zum nächsten zu kommen, so könnte man, ganz oberflächlich, den Inhalt dieses Romans umschreiben. Die Werke dieser Autorin kreisen um die Identität der Frau, aber auch um die Auseinandersetzung mit dem Heimatbegriff in kritischer, wie auch oft sehr satirisch-verstörender Form.
Als Elfriede Jelinek, die 1946 im steirischen Mürzzuschlag geboren und als musikalisches Wunderkind schon mit dreizehn Jahren am Wiener Konservatorium angenommen wurde und dort Klavier, Orgel und Komposition studiert hatte, 2004 den Literaturnobelpreis erhielt, reagierte man in Österreich, ihrem Geburtsland, überschwänglich. Nun waren sämtliche Politiker und Politikerinnen, die der Autorin früher Steine in den Weg gelegt hatten, stolz auf diese »Bürgerin«. Einzig die Kronenzeitung, das auflagenstärkste patriotische Revolverblatt der österreichischen Presselandschaft, erwähnte die hohe Auszeichnung an die Autorin mit keiner Silbe. Warum? Weil Jelinek und die Kronenzeitung seit Jahren im Clinch lagen. Ihre Theaterstücke Burgtheater (1985), Totenauberg (1991), Das Werk (2003), Bambiland (2003) oder Rechnitz – Der Würgeengel (2008), in denen Jelinek die österreichische Gesellschaft direkt mit ihrer nicht aufgearbeiteten braunen Vergangenheit konfrontierte, ihr auch Korruption und »Freunderlwirtschaft« vorwarf, wurden als Affront angesehen und brachten sie ins Kreuzfeuer der Kritik. Doch auch schon als Romanautorin polarisierte sie und spaltete die Öffentlichkeit in zwei Lager: Es gibt die einen, die sie verehren, und die anderen, die sie ablehnen.
Der Titel des Buches, um das es hier geht, ist eine reine Provokation, denn mit »Lust« oder mit »Verlangen« haben die beschriebenen Aktionen der Protagonisten nichts zu tun. Im Zentrum stehen perverse und menschenunwürdige Triebe, an deren Ende eine Hülle, ein kläglicher Rest menschlicher Seele liegt, der jedoch nicht geholfen wird. Wer am Boden liegt, wird noch weiter in eben diesen hineingetreten. Jelinek liefert mit Lust einen vollkommen irrwitzigen, grotesken Anti-Porno ab.
Sie verwendet die Sprache in ihrer ganzen Radikalität, in Metaphern, Wortspielen, Zitaten und bloßer Gewaltbeschreibung. »Die Sprache selbst will jetzt sprechen gehen!«, meinte Jelinek in diesem Werk. Die im Roman vorgenommene Beschreibung Jelineks von der depressiven und absolut hörigen Gerti, ihrem konsumgeilen, degenerierten Sohn, den sie mehr liebt, als es zwischen Mutter und Sohn angebracht wäre, und dem despotischen Ehemann Hermann, einem angehenden Spitzenpolitiker, bildet die Ausgangssituation dieses Buches. Gerti beginnt eine Affäre mit dem Studenten Michael, einem ebenfalls zukünftigen Spitzenpolitiker, der sie sexuell jedoch nur ausnutzt und vor seinen unreifen Freunden damit prahlt – und Hermann ist, als er von der Affäre erfährt, um sein Mann-Sein besorgt, da es »seine Heimat in ihrem Loch« hat, so beschreibt es die Autorin schonungslos. Die Situation eskaliert schließlich, Gerti flüchtet, wimmert vor Michaels Türe, doch dieser verschmäht sie und schließlich holt Hermann sie zurück. Dort, wo sie »hingehört «, bringt Gerti am Ende, in völliger Verzweiflung ihr Kind, den Sohn, der dem Mann, ihrem Peiniger, so ähnlich sieht, um. Am Beginn des Buches steht ein Zitat von Johannes vom Kreuz: »Tief in versenktem Raume / trank ich vom Feind … Als ich zum Tag mich wandte, / war bis zum fernsten Saume / kein Ding, das ich noch kannte – / die Herde war entrückt, mit der ich rannte.« Ein vielsagendes Zitat, dessen Aussage sich subtil durch das ganze Buch zieht.
Die Kritik zeigte sich irritiert über so viel Schonungslosigkeit und die Leserschaft war bestürzt von dem Psychogramm einer von der Männerwelt malträtierten Frau, die zuletzt nur selbst die pure Gewalttat als Flucht davor als Ausweg sieht. Jelinek schuf eine Sprache als Spiegelbild von Ekel, Minderwertigkeit, Komplexen, Perversion, Denunziation. Und genau dieses Spiegelbild wollte man in Kritikerkreisen nicht erkennen. Marcel Reich-Ranicki, kein besonderer Freund von Jelineks Literatur meinte damals: »Das literarische Talent der Elfriede Jelinek ist, um es vorsichtig auszudrücken, eher bescheiden. (…) Ihre Dramen sind unaufführbar. (…) Ein guter Roman ist ihr nie gelungen, beinahe alle sind mehr oder weniger banal oder oberflächlich. (…) Also sind es vielleicht Bücher für Kritiker? Nein, manchen wurde auch Bestsellerruhm zuteil. Wie ist das alles zu verstehen?«
Lust wurde solch ein Bestseller, denn je mehr man sich in Feuilletons gegen das Buch einschoss und die »kranken Fantasien « anprangerte, desto hellhöriger wurde das lesende Publikum. Es war nicht der erste Romanskandal Jelineks. Schon ihr Roman Die Klavierspielerin hatte für Aufsehen gesorgt. Ihre Figuren irritieren immer wieder, weil sie vollkommen verroht, emotional geschädigt wirken und weil sie irrational zu handeln scheinen, also unberechenbar sind. Und für die einen war dieses Buch ein Skandalon, für die anderen ein Glanzpunkt in der jüngeren Gegenwartsliteratur. Die Literaturkritikerin Sibylle Cramer (Der Tagesspiegel) schrieb damals: »Lust ist eine feministische Attacke auf die Pornografie und eine Obduktion des Genres. (...) Daß die Autorin keine poetischen Gewinne macht, daß ihre Tirade keinerlei rhetorischen Ehrgeiz entfaltet, daß diese Lust ein unförmiger Klumpen ist, formal eine Katastrophe, liegt gewiß in der Absicht der Autorin und nimmt für das Buch dann doch wieder ein.«
Übrigens, nur wenige Monate vor ihrem eigenen Skandalwerk, rief Elfriede Jelinek, gemeinsam mit anderen namhaften, österreichischen Autoren und Autorinnen (z. B.: Gerhard Roth, Peter Turrini, Josef Haslinger, Michael Scharang und Gernot Wolfgruber) zur Gegendemonstration vor dem Burgtheater auf, in dem Thomas Bernhards Heldenplatz (siehe Kapitel, S. 160) unter wütenden Protesten aufgeführt wurde.
Literarisches Genre: Roman (1989)
Herkunftsland: Österreich
Dieser Text stammt aus dem Buch "Skandal. Die provokantesten Bücher der Literaturgeschichte! von Clemens Ottawa.