"Der Liebhaber" von Marguerite Duras

Erste Amouren eines jungen Mädchens in Indochina

6. Dezember 2019
Redaktion Börsenblatt
Ein Fortsetzungsabdruck im Börsenblatt, der Sie inspirieren könnte: Wie wäre es mit einem Skandal-Bücher-Tisch in Ihrer Buchhandlung? Clemens Ottawa hat die öffentlichen Diskussionen von 61 "Skandalbüchern" nachgezeichnet, zehn daraus lesen Sie hier!

Marguerite Duras war jemand, der das Leben und auch das Leiden in vollen Zügen genoss. Jahrzehntelange Alkoholsucht führte immer wieder zu Zusammenbrüchen, Schaffenspausen und 1988 sogar zum Koma, in dem die im April 1914 in Südvietnam, damals noch Teil Indochinas, Geborene fünf Monate lag. Als Duras erwachte, begann sie beinahe sofort wieder mit dem Schreiben, ihrem Lebenselixier. Duras war eine radikale Avantgardistin der Literatur, die lange auf ihren ganz großen Erfolg warten musste, der sich erst mit ihrem Alterswerk Der Liebhaber einstellte. Das Buch ist, wie jedes ihrer Werke, ein stark autobiografisches.

1932 kam die junge Duras zum Studieren nach Paris – zwei Jahre später heiratete sie ihren Studienkollegen Robert Antelme und engagierte sich in der Résistance im Kreis um den späteren Präsidenten Mitterand. Einen schweren Schicksalsschlag hatte sie 1944 zu überwinden, als ihr Ehemann von den Deutschen verhaftet, deportiert und schließlich ermordet wurde. Nach Kriegsende trat Duras der Kommunistischen Partei bei und hatte eine Affäre mit dem Lektor und Autor Dionys Mascolo, aus der ein Sohn entstand. In diesen Jahren schieb sie wie eine Getriebene. Romane, Dramen, aber auch Filmdrehbücher, etwa für Alain Resnais’ Klassiker Hiroshima mon amour. Mitte der 60er Jahre wagte sie sogar selbst den Schritt hinter die Kamera. Einige recht handlungsarme Experimentalfilme entstanden. In ihrer späteren Schaffensperiode überwog der feministische Grundgedanke und 1984 kehrte sie mit Der Liebhaber nochmals zurück zur sprachlich radikalen Schilderung von Erlebtem, schonungslos freizügig und für viele skandalös. Ihr allerletzter Text trug den schlichten Titel C’est tout (Das ist alles) und erschien 1995. Darin beschreibt die Autorin das Leben der letzten Jahre zwischen ihrer Pariser Wohnung und dem Haus in der Normandie, ihre Schreibblockaden, ihre Alkoholexzesse, ihre Klinikaufenthalte, aber vor allem ihre Liebesbeziehung zum fast vierzig Jahre jüngeren Philosophen Yann Andrea Steiner, der Duras in ihren letzten Jahren auch pflegte. Duras starb am 3. März 1996 in Paris.

In ihrem Erfolgsroman Der Liebhaber wird das Erwachsenwerden des fünfzehnjährigen französischen Schulmädchens Hélène Longonelle in Indochina, dem heutigen Vietnam, am Ende der 1930er Jahre beschrieben. Auf einer Fähre, die den Mekong überquert, trifft das Mädchen einen wohlhabenden, zwölf Jahre älteren und eleganten Chinesen. Er macht Avancen und so wird das Mädchen seine Geliebte. Eine sexuelle Beziehung ohne jeglichen zwischenmenschlichen Austausch nimmt ihren Anfang. Das Mädchen, dessen Mutter depressiv, verwitwet, alleinerziehend und fast pleite ist, verlangt irgendwann auch Geld für seine Liebesdienste. Der ältere Bruder des Mädchens ist drogen- und spielsüchtig, weshalb die Familie so gut wie mittellos ist. Er quält seine Schwester gerne und sieht noch viel lieber zu, wenn sie von ihrer Mutter gemaßregelt wird. Seine Bekanntschaft mit dem Chinesen hat vornehmlich rassistische Gründe. Allmählich wird Hélène zur Prostituierten ihrer eigenen Familie, sie trennt Gefühl und Körper, wird zunehmend kühler und verliert jegliches Zutrauen zur Gesellschaft. Die ekstatische Romanze mit dem Chinesen endet unglücklich. Er darf die junge Französin nicht heiraten, sie ist seinem reichen Vater zu arm. Jahrzehnte später, inzwischen verheiratet, ruft er die längst in Frankreich lebende Ex-Geliebte aus Paris an und teilt ihr mit, dass er sie immer lieben werde. Erzählt wird die ganze Geschichte von einer erwachsenen, auktorialen Erzählstimme, die seltsam ungerührt und damit recht irritierend diese drastischen und erschütternden Vorkommnisse, schildert. Der fehlende einheitliche und zusammenhängende Erzählstrang dieses schmalen, nur etwas über hundert Seiten starken Buches und die Collagen aus Erinnerungsfragmenten und plötzlichen Zeitsprüngen wurden von der Kritik hochgelobt, sind beim Lesen aber auch eine Herausforderung.

Mit diesem Spätwerk war der siebzigjährigen Autorin Duras, spät der literarische Durchbruch in der allgemeinen Öffentlichkeit gelungen. Samuel Beckett dagegen, der ja seit 1937 in Frankreich lebte und die dortige Literatur bestens kannte, hatte sie bereits Jahre zuvor als wichtigste französische Autorin der Gegenwart bezeichnet, ohne dass dies von den Verkaufszahlen ihrer Bücher bewiesen wurde.

Als das Buch erschien, konnten die Reaktionen darauf nicht unterschiedlicher ausfallen: Erst folgte wilde Empörung über diese Erzählung einer französischen Lolita, dann der wichtigste Literaturpreis des Landes, der Prix Goncourt. Auch heute, über drei Jahrzehnte später, schwankt man beim Lesen zwischen Entsetzen und Begeisterung; zu eindringlich, zu nah ist hier das Erleben einer Fünfzehnjährigen geschildert, die sich einem fast doppelt so alten Mann hingibt.

1991 wurde das Buch unter der Regie von Jean-Jacques Annaud verfilmt. Duras schrieb am Drehbuch mit, war aber nicht zufrieden mit dem Streifen, da er sich zu sehr auf die Liebesgeschichte und die durch den Titel geweckten Erwartungen konzentrierte. Den Part der Margeruite hatte die junge Britin Jane March (geboren 1973) übernommen.

Literarisches Genre: Roman (1984)
Herkunftsland: Frankreich
Originaltitel: L’amant

Dieser Text stammt aus dem Buch "Skandal. Die provokantesten Bücher der Literaturgeschichte! von Clemens Ottawa. 

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