Auch drei Jahre nach ihrer Fertigstellung ist die Elbphilharmonie für Hamburg noch immer die Touristenattraktion Nr. 1. Man besucht das Konzerthaus an der Norderelbe vielleicht auch der Musik wegen, vor allem aber, um den spektakulären Bau aus Glas, Stahl und Beton einmal gesehen und selbst fotografiert zu haben. Millionen Menschen reisen dafür an.
Der 6. November 2019 lief für die „Elphi“, wie die Hamburger ihr neues Wahrzeichen liebevoll nennen, etwas anders: 400 Gäste kamen, weil sie auf eine Familienfeier eingeladen waren. Die Jubilarin, eine gebürtige Hamburgerin namens Thalia, wurde 100. An der Ticket-Kasse: vier Schalter für das Abendkonzert mit der Dresdner Philharmonie, kein Andrang; jedoch lange Schlangen vor zwei Schaltern für Europas größten Buchhändler, den Hundertjährigen. Wer in der Buchbranche Rang und Namen und höhere Befugnisse hat, war anwesend, ein Fest des Lesens mitzufeiern. Dessen Motto: „100 Jahre wach“ (das kannten alle bereits von der aktuellen Thalia-Kampagne), dessen Dresscode: Cocktail (war für manche schon komplizierter).
Manuel Herder, der Freiburger Verleger und Mehrheitsgesellschafter von Thalia, führte gut gelaunt durch den Abend und begrüßte seine Gäste mit dem Hinweis auf den Wochentag – Mittwoch, bei Thalia seit geraumer Zeit der „Lesetag“; wochenkalendarisch stimmte die Regie. Der Marktführer im Sortimentsbuchhandel hat sich zum Jubiläumsjahr ein erweitertes Rollenbild verpasst, er möchte nicht nur Verkäufer von Büchern, sondern „Anstifter“ zum Lesen und Denken sein. Impulsgeber „einer Welt, in der Inhalt zählt“.
Als roter Faden zieht sich die Idee gesellschaftlicher Verantwortung, die über Einzelhandelsprofessionalität hinausreicht, auch durch das Buch „Welt, bleib wach“, das Thalia-CEO Michael Busch herausgegeben und unlängst der Öffentlichkeit vorgestellt hat. Im Eröffnungsgespräch mit Herder über dieses gut 300 Seiten starke „Buch vom Lesen“ hatte Busch die Rolle des Anstifters schon gut drauf: „Am Ende ist nicht wichtig, was man liest, sondern dass man liest“, sagte er – und bekam Applaus statt Widerspruch.
Den hätte mühelos die inspirierende Festrednerin Elke Heidenreich einlegen können, der es als eine Pionierin der Leseanstiftung immer daran gelegen war, ihr Publikum gleichermaßen zum „Dass“ und zum „Was“ des Lesens zu beraten. Ihr kluger Beitrag im kleinen Saal der Elbphilharmonie kreiste um die Frage, was eigentlich bleibt vom Leben, was überdauert. Heidenreichs Antwort, wer hätte es gedacht: die Kunst, die Bilder, die Musik, die Geschichten! Bücher seien für sie eine Art rettendes Geländer entlang der Abgründe des Lebens, an dem Leser*innen sich festhalten können. Mit Gottfried Benns berühmter Hilfe – „dumm sein und Arbeit haben, das ist das Glück“ – stellte die Literaturenthusiastin das Lesen als diejenige Lebensweise vor, die herausführt aus dem billigen Glück, hinein ins Intensive, Bereichernde, in die Empathie und in das Verstehen-Können des Anderen.
Dann hatte sie noch eine kleine Mahnung mitgebracht – so charmant vorgetragen, dass die Gastgeber es ihr nicht übelnehmen konnten: Diese rettenden, das Leben erweiternden Bücher zu verkaufen, bedürfe es kundiger Vermittler. „In den Buchhandlungen an geschultem Personal zu sparen, kann die Lösung nicht sein“, betonte Heidenreich. Und setzte lächelnd hinzu, so viel dürfe doch gesagt werden, „ohne die Geburtstagstorte gleich zu vergiften“.
Die große Rede des Abends hielt Alt-Bundespräsident Joachim Gauck, den Michael Busch als „moralische Instanz“ auf die Bühne bat, der sich aber, wie er sogleich bekannte, in der ihm zugedachten Rolle nicht sah. „Ich spreche lieber als Leser zu Ihnen.“ Das tat er dann – eingangs gleich mit einem bezaubernd freien Bekenntnis: „Ich träume nicht von Thalia-Palästen. Ich träume von alten, kleinen, dunklen Läden, in denen mir eine 65-jährige Buchhändlerin Rat gibt, die mich kennt und die genau weiß, was ich suche.“ Der romantische Höhepunkt des Abends.
Natürlich ist Gauck, ein Meister im ambivalenten Denken, nach seinem persönlichen Credo („Gegen meine Träume kann ich ja nichts machen.“) dann unverzüglich zum entscheidenden Aber gekommen. Zwar hänge er, selbst alt geworden, an manchen alten Dingen wie diesen Arealen des Buchhandels „zwischen Selbstausbeutung und Glückseligkeit“. Aber es brauche eben auch „Strategien, wie wir das Buch heute zu den Menschen bringen wollen, es braucht Unternehmen, die die wirtschaftliche Kraft haben, das in dieser Zeit zu tun und damit zu bestehen“.
Der Alt-Bundespräsident gratulierte den vollzählig versammelten Eigentümerfamilien Thalias dazu, dass sie unternehmerische Verantwortung übernommen hätten. Dass sie sich dem Wandel stellten und ihn zu gestalten versuchten, anstatt ihn zu beklagen. Dass sie die Freiheit als „Freiheit zu etwas, zu eigenständigem Tun“ begriffen. Darin sah Gauck die besondere Bedeutung von Familienunternehmen.
Sein Bild von Demokratie sei das einer offenen Gesellschaft, in der alles ausgehandelt werden müsse. Streit als Normalfall. Deshalb, so Gaucks leidenschaftlicher Appell an alle Lese-Anstifter und Impulsgeber im Saal: „Wir dürfen nicht den Löffel abgeben, uns nicht eskapistisch zurückziehen, uns nicht treiben lassen wie ein Blatt im Wind.“ Das passte nicht schlecht zu einem Buchhandelsunternehmen, das seinen großen Geburtstag unter das Motto „100 Jahre wach“ gestellt hat.
Apropos wach, es wurde dann eine lange Nacht, reich an Gesprächen. Um Bücher ging es dabei manchmal auch.