Kundenorientierung wird in der Buchbranche fast mit religiöser Inbrunst vorgetragen. Gilt das immer, überall und ausschließlich? Denn immerhin sind Bücher ja Tendenzprodukte. Sie können ihre Herkunft vom Buch der Bücher, der Bibel, bis heute nicht verleugnen. Aus dieser Aura und Substanz des Buchs, das ein heiliges war, saugt noch jedes Buch seinen Honig – als Tendenz.
Dies hat man sich zunutze gemacht, insofern, als Kulturbeauftragte (aktuell beim Hörfunk und immer wieder in der Buchbranche) in der Vergangenheit mit Kultur überaus bequem an Ansehen und Reputation gewonnen haben. Da die Zeiten sich nun ändern, der raue Wind der Technologie weht, erweisen sich gerade diese nun plötzlich als die hurtigsten Ausverkäufer der Kultur. Wahlweise spricht man dann grimmig stirnrunzelnd von disruptiv wirkender Digitalisierung oder verständnisinnig nickend von den jungen Leuten, die man nicht erreiche – wo man doch eigentlich selbst wissen sollte, worin der Wert der Kultur liegt. Etwa in der Nachfrage?
Das Nachgefragte und Populäre ist immer irgendwie auch gut, vor allem dann, wenn es weiter führt. Nehmen wir als Beispiel die zurzeit sehr erfolgreichen Klappenbroschuren der Reihe Mutige Frauen. Warum nicht aufgrund der klar gegebenen Nachfrage bei der Beratung auch mal einen Schritt weiter gehen? Also auf "Gala Dali" von Unda Hörner oder, was freilich der übernächste Schritt sein könnte, auf "Letzte Liebe" von Bettine von Arnim hinweisen? Der Unterschied von Stufe und Hindernis ist oft nur gradueller Natur. Ein solches Upgrade ist auch Kundenorientierung und bereitet allen Freude.
Neuerdings aber werden Konsumentenentscheidungen bei Klima- und Gerechtigkeitsfragen überaus eilfertig nach vorne geschoben: Der Verbraucher entscheide, heißt es scheinbar bescheiden und rücksichtsvoll. Man wolle nicht missionieren, heißt es bei Büchern dann. Insgesamt gehören gerade Tätigkeiten der Presse, Bildung und Reflexion in dieser von Technik und Digitalisierung dominierten Gesellschaft zu den Berufsgruppen, die man als entbehrlich anzusehen scheint.
Kundenorientierung endet also vielleicht genau da, wo Tendenzbuchhandel anfängt. Das Wesentliche der Tendenz der Bücher – das Ethische – liegt aber darin, dass ihr nicht wahlweise gefolgt wird. Aus ihr leitet sich das ab, was man in anderen Zusammenhängen als Verkündigungsauftrag bezeichnet. Diese Tendenz hatte ja niemals deshalb Bestand, weil sich etwa die Kundschaft nach ihr so engagiert erkundigt hätte. Wozu haben wir dann die größeren sozialen Einheiten wie Universitäten, Radiosender und Buchhandlungen, wenn nicht genau dazu, dieser Tendenz zum Ausdruck zu verhelfen?
Stattdessen erinnern einige Verlage an denjenigen, der, um mehr Wohnfläche zu gewinnen, sein Treppenhaus abreißt. Er gewinnt tatsächlich mehr Fläche. Aber weder wird ein Blick in das obere Stockwerk getan, von dem man im Verlag nichts zu ahnen scheint, noch geht man in den Keller, wo die Traditionsbestände liegen. Ein Blick aus dem Fenster scheint zu reichen, einfach nur um zu sehen, was die Nachbarn gerade machen.
Verlagsarbeit erfordert aber eine gewisse Doppelbegabung: Beobachtung der Gegenwart und Kenntnis der Backlist. Den Überblick gewinnt man vom oberen Stockwerk aus. Aber erst durch das Archiv im Keller bleibt die eigentliche Tendenz im Bewusstsein. Denn die Veröffentlichungen der Vergangenheit bilden nicht selten die entscheidende Ressource eines Verlags: Wenn man bei Suhrkamp zum Beispiel einen Text von Theodor W. Adorno als Kommentar zur Gegenwart publiziert. Klassische Texte haben, zum richtigen Zeitpunkt angeboten, immer die Chance auf ein Upgrade, weil wir sie, neu gelesen, anders oder höher einstufen. Sie sind dann ferne Spiegel wie Dostojewskis Dämonen, in denen mangelnde Kultur als Nihilismus erscheint.
- Nachrichten für Zielgruppen
- Besondere Formate
- Abo und Ausgaben