Die unbequeme Wahrheit gleich vorab: Der stationäre Handel ist längst nicht mehr der unentbehrliche Versorger. Das können andere genauso gut, schneller und teilweise – wenn auch nicht im Buchhandel – sogar billiger. Waren fließen heute wie Wasser aus dem Hahn direkt in die Häuser. Manche unken gar, die Kultur des Einkaufens ginge unter und mit ihr die Funktion von Innenstädten und Zentren.
Sicher jedenfalls ist: Was digitalisiert werden kann, wird digitalisiert. Was standardisiert werden kann, wird automatisiert und über eine technologisch hoch entwickelte Logistik verteilt. Das trifft in erster Linie die Bedarfskäufe, geht aber auch weit darüber hinaus.
Für den stationären Handel ließe sich schnell ein düsteres Szenario skizzieren, dessen Parameter längst gegenwärtig sind: steigende Gewerbemieten, Energiepreise, Lohn- und Logistikkosten. Dazu eine sinkende Kundenfrequenz, die neben der Verlagerung von gezielter Bedarfsdeckung in den Onlinebereich auch mit der Abwanderung von Beschäftigten in Metropolregionen und zunehmenden Pendlerzahlen zu tun hat. Darüber hinaus spielt auch die steigende Berufstätigkeit von Frauen nach dem Zeitpunkt der Familiengründung eine nicht unerhebliche Rolle. All dies in Anbetracht weitgehend monotonisierter Handelsräume wie Innenstädte und Ortszentren, die zwar einstmals für den Handel optimiert wurden, deren Einkaufs- und Aufenthaltsqualität aber vielerorts zugunsten des fließenden Verkehrs gelitten hat.
Wie aber kann man Konsumenten aktivieren, in die Innenstädte, die Ortszentren, die Viertel zu gehen, um auch dort wieder einzukaufen? Was suchen Kunden im Handel vor Ort?
Konsumenten, das belegen Studien, wünschen sich belebte Städte, Orte und Einkaufsbereiche, die neue Formen der Begegnung ermöglichen. Der Kunde von heute möchte entspannt bummeln, verweilen, Genuss und Erleben mit seinem Kauf verbinden und online unkompliziert dazu passende Informationen zur Vor- und Nachbereitung finden. Kunden bevorzugen Einkaufsorte mit einem spannenden Branchenmix, mit individuellen Warenangeboten und deren reizvoller Präsentation.
"Digitales Biedermeier" wird dies mitunter von Stadtplanern genannt; analog zum Biedermeier, als Menschen in Zeiten der Industrialisierung Ruhe suchten in der Familie und im Naturidyll. Ebenso entfalte nun die Digitalisierung komplementäre Kräfte: Die Menschen treffen sich in Slow Reading Clubs, um gemeinsam, aber jeder für sich, zu lesen. Sie schreiben wieder handschriftlich Briefe, malen und zeichnen. Sie widmen sich der Bienenzucht, der Herstellung von Craft Beer, gärtnern und kochen oder erfreuen sich des Waldbadens. Sie wollen sich aus der Dauererreichbarkeit ausklinken und das Gefühl der Überraschung, des Staunens und der Selbstvergessenheit erleben.
Für den stationären Handel bedeutet dies alles: Ware anzubieten, reicht längst nicht mehr. Erst eine Kombination von Warenangebot und Erlebnis, die viel gerühmte "Retailtainment"-Mischung, schafft der Kundschaft einen gewichtigen Grund, sich auf den Weg zur Ware zu begeben. Das gilt zumal dann, wenn man sich diese Ware auch nach Hause liefern lassen könnte.
Da liegt es für den Handel nahe, sich so weit wie möglich auf das zu konzentrieren, was nicht digitalisierbar, nicht automatisierbar und nicht standardisierbar ist.
Alles wie früher, oder was?
Mitnichten. Es geht um die Inszenierung dessen, was sich digital nicht simulieren lässt: Atmosphäre, Authentizität und Aura.
Kunden verbinden mit dem Triple A, beim Buchkauf Neues zu entdecken, und das meint neben neuen Titeln auch neue Kontexte. Sie möchten überrascht und inspiriert, unterhalten und individuell beraten werden. Sie wollen sich gut orientieren, in einer Atmosphäre verweilen, die ihnen Entschleunigung bietet und persönlichen Rückzug. Sie wünschen, anderen zu begegnen, gegebenenfalls sich mit ihnen auszutauschen, und generell vorzufinden und zu erleben, was sie zu Hause so nicht bekommen.
Wer könnte dies besser anbieten als der Buchhandel?
Wer sich jetzt innerlich ein eilfertiges "Hab ich", "Kann ich", "Mach ich längst" attestiert, sei gewarnt. Es geht hier um nichts Geringeres als die Neuerfindung des stationären Bucheinzelhandels. Ein Terrain, auf das sich bereits Einzelne mutig vorgewagt haben, das aber noch längst nicht in Gänze erkundet ist.
Neben dem Erfordernis integraler Kanäle (zumal die Kunden Omnichannel längst leben) sind alle der genannten Kaufmotive zu bedienen. Emotionalisierung und Inszenierung fangen bei dem Überdenken der herkömmlichen Präsentation nach Warengruppen an (Stichwort Themenwelten), spielen eine zentrale Rolle bei allem, was die Bindung und Loyalität des Kunden entfachen und festigen kann, und machen selbst am Abholfach nicht Halt.
Viel Chance, aber auch viel zu tun.
Und noch ein Aspekt lässt die vermeintliche Düsternis des skizzierten Szenarios sehr viel lichter werden: die Bedeutsamkeit des "Dritten Ortes".
Das Individuum sucht eine stabile Verankerung im persönlichen und lokalen Bereich. Beide Bereiche, sagen Soziologen, seien essenziell für das Funktionieren einer Gesellschaft. So definieren sie das eigene Heim als "Ersten Ort", die Arbeitsstätte als "Zweiten Ort" und nahmen erst um die Jahrtausendwende den "Dritten Ort" hinzu. Dritte Orte sind Begegnungsräume, in denen sich Menschen versammeln, aufhalten, sich in Gemeinschaft erleben können und in denen Öffentlichkeit hergestellt wird. Dritte Orte gewinnen in einer globalisierten und vernetzten Welt immer mehr an Bedeutung. Auch in dieser Hinsicht walten also die komplementären Kräfte der Digitalisierung.
Buchhandlungen sind ideale Dritte Orte.
Da die Vielfalt an Buchtiteln nicht nur Inszenierungsmöglichkeiten für die Warenpräsentation bietet, sondern auch in Form von Lesungen, Dialog-, Diskussions- und Debattenforen, verfügen Buchhandlungen über geradezu ideale Möglichkeiten, ihre Attraktivität als Begegnungsräume im genannten Sinne zu steigern.
Die Chancen des stationären (Buch-)Einzelhandels und der Innenstadtgestaltung gleichermaßen liegen letztlich in einem deutlichen Gegenentwurf zur digitalen Welt. Ein Gegenentwurf, bei dem sich die Grenzen zwischen Handel, Unterhaltung, Einkaufen, Verkaufen und Distribution voraussichtlich deutlich verschieben, teilweise gar auflösen werden. Ein Gegenentwurf, der das Analoge mit allen komplementären und kompensatorischen Aspekten in den Fokus des Planens und des Handelns rückt.
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Viele Grüße aus Tübingen
Norbert Kraas