Else Laudan über gesellschaftskritische Bezüge in Krimis

Thrill und Kritik

24. Januar 2019
Redaktion Börsenblatt
Krimis sind soghafte Gegenwartsliteratur, die fiktionalisiert, woran die Gesellschaft krankt. Meint Else Laudan, Verlegerin von Argument und Ariadne.

Spätestens seit vor 90 Jahren Dashiel Hammetts "Rote Ernte" erschien, ist Kriminalliteratur auch bissiger Gesellschaftskommentar. Sie paart das temporeiche, figurennahe und persönliche Erzählen mit einer Autopsie des Verbrechens. Sie betrachtet das Unmoralische nicht als Abweichung, sondern als Bestandteil der Ordnung. Ein böser Gedanke, ungemütlich wie gesellschaftliche Konflikte – die nicht weggehen, wenn wir uns abwenden. Die Gewalt ist da, sie ist real und hat viele Gesichter, und unser Genre ist die Kunstform, die sie unter die Lupe nimmt und so davon erzählt, dass wir es gebannt inhalieren, uns bildhaft vorstellen und besser verstehen können. Damit erzählt gute Kriminal- und Noirliteratur von der wirklichen Welt, erweitert den Horizont und fiktionalisiert Themen, die auf den Nägeln brennen. Diverse Verlage bringen hochwertige, tiefgründige und länger wirkende Kriminalromane, international und deutschsprachig, die das Prädikat "Krimi als soghafte Gegenwartsliteratur" voll und ganz verdienen.

Ganz akute Themen unserer komplexen Welt sind Intoleranz und Populismus, Raubbau und mafiöse Wirtschaft. Folgerichtig liefern jetzt gute Kriminalromane den Spiegel, der in diesem Kontext Verbrechen und Gewalt kenntlich macht, und erzählen packende Geschichten dazu. So ist Tom Franklins Mississippi-Noir "Krumme Type, krumme Type" (Pulp Master) eine epische, atemlos packende Story um einen unheimlichen ländlichen Paria, einen guten Polizisten und die Angst vor dem anderen: ein von verschmitztem Humor gekröntes episches Thrillerdrama, das mit jeder falschen Fährte noch mitreißender wird. In "Mexikoring" (Suhrkamp) findet Simone Buchholz eine Stimme für die Ohnmacht der nicht Aufgehobenen: Staatsanwältin Riley späht in Hamburger und Bremer Abgründe aus Unverständnis zwischen Kulturen und Instanzen – ein ergreifend trauriger Whodunnit, der sich aber spannend, federleicht und poetisch liest.

Max Annas, Experte für atemlose Fluchten zu Fuß, bringt mit "Finsterwalde" (Rowohlt) einen Near-Future-Thriller mit berührenden und bedrückenden Szenarien, ungewöhnlichen Helden und Heldinnen und rasanter Handlung, unverkennbar in Deutschland angesiedelt, gar nicht nett, doch geschichtsbewusst und höchst bedenkenswert. In "Wo Rauch ist" (Ariadne) kreiert Gudrun Lerchbaum ein sprühendes Trio, das mit Courage und Humor gegen Vorurteile antritt: Eine MS-gelähmte Aktivistin rekrutiert einen Grabredner und eine Furie, um im vom Rechtsruck gebeutelten Wien einen perfiden Mord aufzuklären. Und "Krokodilstränen" von Mercedes Rosende aus Uruguay (Unionsverlag) verflicht Pulp, Psycho, Rififi und Intrige zu einem süffisanten urbanen Schurkenstück, dessen Figuren sich einen aufregend unvorhersehbaren Tanz liefern, bis die Fetzen fliegen.

Gleich zwei aktuelle Erstlinge überraschen mit sehr jungen Antihelden: "Nichts ist verloren" von Chloé Mehdi erzählt hinreißend unzuverlässig eine brisante Cold-Case-Geschichte aus der Normalität der Banlieues, wie der elfjährige Mattia sie erlebt. Auch "Dodgers" von Bill Beverly (Diogenes) nimmt die Sicht eines Halbwüchsigen ein, der nur sein kriminell getaktetes Viertel kennt: Mit einem Mordauftrag reisen Straßenjungs aus Los Angeles quer durch die USA; der Blick der Kids aus den Slums auf Land und Leute ist von bestrickender Eindringlichkeit. Junge Perspektiven auf unsere Welt, die zu denken geben.

Eine beliebte Spielart des Krimis sind Serien, in denen die Hauptperson von Fall zu Fall vertrauter wird. Hochkarätigen Autoren und Autorinnen gelingen dabei starke, relevante Romane, die zugleich Standalone-Qualität haben. In dieser Liga erfährt die Grande Dame des Detektivinnenromans Sara Paretsky gerade ein furioses Comeback mit Ermittlerin Vic Warshawski in "Kritische Masse" (Ariadne): Das versiert elegante Erzählen macht den klugen Plot um Drogen, Physik und Geschichte zum Pageturner, ein opulenter Schmöker auch für strikte Hardboiled-Fans, der so spannend wie informativ den Bogen von Chicago bis Wien und über ein Dreivierteljahrhundert spannt. Auch Louise Penny wird jetzt wiederentdeckt: "Hinter den drei Kiefern" (Kampa) ist ein feiner Procedural-Krimi um verdeckte Ermittlungen an der kanadischen Grenze, intelligent und mit exzentrischem Charme erzählt in Bildern, die lange haften bleiben.

Zunehmend brennendes Thema hier und heute ist die leider noch immer universale Herabsetzung von Frauen, ihre historische und sprachliche Unsichtbarmachung sowie Traumatisierung und Sexismus im Alltag. Da hypnotisiert die für ihren feinen Sound gerühmte Anne Goldmann mit "Das größere Verbrechen": Extrem nah an den Figuren ist man ihrer Angst ausgeliefert, teilt ihr Klammern an Illusionen; es ist ein unheimlicher Thriller über versehrte Frauen, Mittäterschaft und Verdrängung. Von Christine Lehmann kommt im Februar "Die zweite Welt" (Ariadne), ein neuer Lisa-Nerz-Krimi, der Demokratie und Feminismus auf populistischen Terror prallen lässt, Schlaglichter auf den Kampf um Geschlechtergerechtigkeit wirft und nicht ohne Humor die aktuelle Polemik verhackstückt. Und im Mai folgt dann Liza Codys schräge "Ballade einer vergessenen Toten", ein zartbitteres Puzzle um Musikerinnen und Showbiz, parallele Wahrheiten und blinde Flecken.

Die Welt ist nicht in Ordnung, und gute Krimis erzählen davon, wie und wo es hakt. Krisengeschichten, die den Geist schärfen: Das kann das Genre.

Else Laudan ist Verlegerin des Argument Verlags in Hamburg mit dem Krimi-Imprint Ariadne.

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