KNV-Chef Oliver Voerster erläuterte, warum alles in der neuen Logistik seinen Platz hat, selbst die Reinigungsbesen, und warum alle Prozesse standardisiert und für jeden Mitarbeiter visualisiert sind. Zu sehen war, wie Wannen vollautomatisiert via RGB (Regalbediengerät) aus dem Hochregallager zu den Mitarbeitern transportiert werden, diese dann die bestellten Artikel entnehmen, ggf. Etiketten aufbringen und zuletzt die Ware in Wannen oder Kartonagen legen. „Sie werden es fließen sehen“, versprach Voerster vor der Führung und sollte Recht behalten. „Ziehen und Fließen“ sind für die Unternehmensgruppe zwei wichtige Prinzipien der Kaizen-Philosophie, die umfassend in der KNV Gruppe auf Initiative und unter der Führung des Familienunternehmers 2007 etabliert wurde.
Ein Wannenlager so groß wie der Kölner Dom
Die Fachklassenlehrer konnten unter anderem einen Blick in die gewaltige Maschinerie eines Wannenlagers werfen, das über drei Ebenen einen Innenraum füllt, der ungefähr so groß wie der Kölner Dom ist. Größtenteils waren in der Logistik Bücher zu sehen, aber es gibt auch Sonderbereiche für Nonbooks, wie Spiele, Karten, Kalender, Wein, Dekoartikel usw. Überall rollen Wannen und Pakete über insgesamt 21 Kilometer Fördertechnik, die in der Logistikanlage verbaut sind. Gut ein Fünftel aller Bücher, die überhaupt in den deutschsprachigen Buchhandel kommen, wird über das Drehkreuz Erfurt ausgeliefert. Neben der Kernfunktion für Buchgroßhandel und Verlagsauslieferung werden bei KNV Logistik weitere Dienstleistungen angeboten. Angefangen von einem zentralen Wareneingang für die Filialen der Mayerschen Buchhandlung, aber auch Zentrallagerfunktionen und Endkundenversand für weitere Mandanten und ein PoD-Druckzentrum. Besonders beeindruckend: Das Hochregallager, in dem die 2.000 Top-Artikel auf drei Etagen lagern und Novitäten der KNO VA direkt von Paletten kommissioniert werden.
"Amazon hat es leichter"
Die besondere Herausforderung für KNV Logistik besteht laut Voerster darin, über ein und dieselbe Logistik Einzelsendungen von einem Artikel in einer Versandtasche bis zu Großaufträgen in Palettenbehältern eines Auftrags mit bis zu 20 Tonnen Gesamtgewicht vollständig und geschlossen aus- und anzuliefern. „Ein reiner Onlinehändler, wie Amazon, hat es da viel leichter, weil er eine sehr viel einheitlichere Auftragsstruktur hat“, erläutert Voerster. Die Probleme der Inbetriebnahme des neuen Standorts setzt Voerster in das Bild eines Wagenrennens: „Wir haben während des Rennens im Galopp nicht nur die Pferde, sondern auch den kompletten Wagen und den Fahrer ausgetauscht“.
Kampf um die Mitarbeiter
Nicht nur die Anlage in Erfurt ist neu, sondern auch fast alle der über 1.000 Mitarbeiter aus inzwischen über 30 Nationen, darunter ein sehr starker Anteil von polnischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Der Arbeitsmarkt im Umfeld von Erfurt hat sich durch den Zuzug weiterer großer Unternehmen wie Zalando deutlich verändert. KNV wirbt neben den vergleichsweise angenehmen Arbeitsbedingungen (Stichworte: Ergonomie und Klimatisierung) auch mit „soften“ Faktoren wie einer wirklich ausgezeichneten Kantine für sich. So konnte der Zielanteil von 85 Prozent Stammmitarbeitern Anfang 2017 erreicht werden - mit positivem Effekt auf Produktivität und Qualität, wie Voerster betont.
Ampeln stehen auf grün
Acht Monate länger als geplant hat es gedauert, den Vollbetrieb mit der Ablösung aller alten Standorte zu erreichen. Inzwischen wurde an etlichen Stellen optimiert und seit Mitte November wird auch der größte Teil des Reservelagers vom Schwarzwald in den Norden Erfurts in ein gerade fertiggestelltes Lager umgezogen. Voerster, der nach langen Nächten und 18 Monaten in Erfurt den Großteil seiner Zeit wieder von der Stuttgarter Zentrale aus operiert, könnte wohl blind durch die Anlage führen. Mit der Stoppuhr in der Hand hat er selbst etliche Prozesse optimiert, zum Beispiel die Art, wie Aufkleber auf Bücher angebracht werden: Es ist schneller, das Buch vorher abzulegen statt es in der Hand zu halten. Wenn der KNV-Chef seine Mitarbeiter anspricht (viele kennt er beim Namen), fällt häufig das schwäbische Wort „geschwind“.
Die Führungskräfte gleiten auf Tretrollern durch die Gänge, Monitore zeigen überall im Logistikzentrum an, wie der Status des jeweiligen Anlageteils aussieht und ob es irgendwo Staus oder Verzögerungen gibt. Trotz des Weihnachtsgeschäfts gibt es heute keine Verzögerungen, fast alle Ampelanzeigen stehen auf grün, der Anteil von Nachtschichten konnte deutlich reduziert werden, berichtet Voerster.
Einige Prozesse wurden angefasst und angepasst: Für die Lagerung und Kommissionierung der Titel des Longtails (konkret: ab dem 200.000 Gängigkeitsrang) gibt es ein speziell angepasstes automatisches Kleinteilelager mit nur zehn Arbeitsplätzen. „Hier erreichen wir mehr als die zehnfache Produktivität im Vergleich zu unserer alten Logistik“, berichtet Voerster stolz.
Bücher aus der Druckerstraße
In dem 2.000 Quadratmeter großen PoD-Zentrum kooperiert die KNV Gruppe mit Canon. Dort werden Titel just-in-time in Kleinmengen bzw. immer häufiger stückweise auf Bestellung produziert, statt irgendwo in der über 1,3 Millionen Kubikmeter großen Logistik zu lagern und zu verstauben. Über die Auslastung der vor wenigen Wochen neu installierten, sehr viel leistungsfähigeren Inkjet-Straße zeigt sich Voerster sehr erfreut und plant mit seinem Kooperationspartner schon den nächsten Ausbauschritt.
Im Anschluss an die Führung wurde über Branchenthemen gefachsimpelt.
Problematische Entwicklung im Transportgewerbe: Zu viel transportierte Luft
Jedes Jahr gehen mehr als doppelt so viele LKW-Fahrer in Ruhestand als neue hinzukommen, berichtet der KNV-Chef. Zudem sind die Kosten mit Maut, Steuern und durch verschärfte Verwaltungsvorschriften schneller gestiegen, als die Gebühren gegenüber den Kunden angehoben werden konnten, so dass sich die Ergebnissituation im Transportgewerbe noch weiter verschlechtert habe. „Mit dem starken Wachstum im E-Commerce zulasten des stationären Handels ist eine Derationalisierung in der Transporteffizienz eingetreten. Weil größere Einheiten, die in die Geschäfte geliefert wurden, durch Kleinpakete des Internetversands substituiert werden, ist der Anteil von Kartonage und ‚transportierter Luft‘ gestiegen und hat zu einem deutlichen Anstieg des Transportvolumens geführt. Diese Entwicklung kann jeder mit kilometerlangen Staus auf LKW-Spuren und völlig überfüllten Raststätten und Parkplätzen auf deutschen Autobahnen täglich beobachten“, beklagt Voerster. Vor diesem Hintergrund ist auch die Vertriebskooperation mit Umbreit zu sehen, die vor allem den Zweck hat, die über die letzten Jahre ständig gestiegenen Transportkosten zu kompensieren.
Stagnierende Ladenpreise
„Das größte Problem der Buchbranche aber ist die katastrophale Ladenpreisentwicklung. Während es den meisten anderen Bereichen wie Energie, Gastronomie, Zeitungen, Mieten, Theater- und Kinokarten gelungen ist, höhere Preise durchzusetzen, fehlt in der Buchbranche der Mut dazu. Viele Menschen zahlen bis zu 15 Euro für einen Kinofilm oder für einen Cocktail. Beides ist in kurzer Zeit konsumiert, während man an einem Buch sehr viel länger Freude hat. Viel zu viele Buchhändler und Verleger finden Bücher eher zu teuer, während die meisten Buchkäufer längst erkannt haben, wie günstig eine Leseminute bei einem durchschnittlichen Buch doch eigentlich ist“, berichtet Voerster. „Unsere neueste Analyse hat erschreckenderweise ergeben, dass bei den Top-30-Titeln der Warengruppe Belletristik die absatzgewichteten Preise sowohl für TB als auch HC in diesem Jahr erneut gesunken sind. Erfreulich ist aber, dass sich über unser Gesamtsortiment bisher eine Erhöhung von knapp einem Prozent ergeben hat“, sagt der KNV-Chef zu den Fachklassenlehrern.
Er beantwortet noch einige Fragen, dann greift er sich seine für alle Mitarbeiter normierte Trinkflasche und verlässt mit seinem Tretroller den Raum, um die Rückfahrt zurück nach Stuttgart anzutreten. Die Buchhandelsklassenlehrer hingegen steigen in einen Bus, der sie zurück nach Leipzig bringt – wo die letzten Programmpunkte ihres dreitägigen Treffens stattfinden.