Verlieren ohne Imageverlust
Der frühere Silicon-Valley-Manager Tim Leberecht wirbt seit Jahren für mehr Humanismus in Wirtschaft und Gesellschaft. Mit seinem neuen Buch stemmt er sich »gegen die Diktatur der Gewinner«.
Der frühere Silicon-Valley-Manager Tim Leberecht wirbt seit Jahren für mehr Humanismus in Wirtschaft und Gesellschaft. Mit seinem neuen Buch stemmt er sich »gegen die Diktatur der Gewinner«.
In Ihrem Buch »Gegen die Diktatur der Gewinner. Wie wir verlieren können, ohne Verlierer zu sein« kritisieren Sie die Leistungsgesellschaft mit ihrem Wachstumsdenken, in der Verlierer als Versager gelten. Hat die Corona-Krise Ihre Thesen überholt, weil wir nun quasi über Nacht gelernt haben, zu verlieren?
Im Gegenteil, die Corona-Krise hat ihre Relevanz noch erhöht. Wahrscheinlich hat nun auch der Letzte verstanden, dass wir nicht unverwundbar sind – sondern dass wir am Ende trotz aller Pläne relativ wenig Kontrolle über unser Leben haben. Zudem hat die Pandemie schonungslos alle strukturellen Krisen aufgedeckt: die Nebenkosten des Kapitalismus, das wachsende soziale Ungleichgewicht sowie die Entfremdung von der Natur und die nahende Klimakatastrophe. Sie hat diese Entwicklungen wie mit dem Brennglas verschärft und uns daran erinnert, welche radikalen Veränderungen notwendig sind, angefangen mit unserer Haltung zum Verlieren.
Warum fallen uns Niederlagen und Rückschritte so schwer?
Das Gewinnen ist so etwas wie der Quellcode unserer Gesellschaft. Es ist in jedem Menschen angelegt, sich weiterzuentwickeln und sich Reichtum, Macht und Wissen anzueignen, als eine Art Grundreflex gegen den ultimativen Verlust: den eigenen Tod. Von Niederlagen kann man sich erholen, aber das Gefühl, ein Verlierer zu sein, ist lähmend.
Vielen Menschen geht es nicht um Wachstum und Optimierung, sie sind froh, wenn sie durch ihre Arbeit überleben. Sind sie für ein Zeitalter des Verlierens besser gerüstet?
Klar ist jedenfalls, dass wir eine neue Bescheidenheit brauchen – dazu gehört der Verzicht auf Konsum und die Rückkehr zu einem wesentlicheren Leben sowie die Bereitschaft, Dinge aufgeben zu können. Diese emotionale Flexibilität wird gerade für Wissensarbeiter am Arbeitsplatz immer wichtiger werden. Dazu zählt auch die Fähigkeit, Mehrdeutigkeit und Komplexität auszuhalten und Kontrollverlust zu ertragen. Diese Qualitäten werden bei Führungskräften künftig zur Schlüsselkompetenz.
Sie benennen künstliche Intelligenz und die Klimakatastrophe als künftige Niederlagen der Menschheit. Wenn wir jetzt aber weniger fortschrittsgetrieben agieren, könnten doch Innovationen ausbleiben, die uns sonst helfen könnten.
Die Frage ist doch, welche Art von Fortschritt wir wollen. Wenn wir uns auch in Zukunft der Gewinnmaximierung und dem Gewinnenmüssen verschreiben, werden wir es im Umgang mit KI und Klimawandel schwer haben. Gefragt ist eine völlig neue Definition von Fortschritt und individuellem Erfolg, die mit der Verletzlichkeit des Menschen und der Natur beginnt. Dies wird die entscheidende Innovation sein. In meinem Buch beschreibe ich, wie dies aussehen könnte: vom bedingungslosen Grundeinkommen über eine neue Kultur der Melancholie bis hin zu Geschichten und Ritualen, die uns das Verlierenkönnen lehren.
Kontrollverlust aushalten zu können, wird auch für Führungskräfte zur Schlüsselkompetenz.
Tim Leberecht