Weiterer Offener Brief zum WDR-Literaturprogramm

"Wollen wir diese Traditionen aufs Spiel setzen?"

1. Februar 2021
von Börsenblatt

"Wenn weniger Bücher in Sendungen zur Kenntnis genommen werden, verarmt die Vielfalt", schreibt Norbert Schreiber in seinem Offenen Brief an die Führungsriege des WDR. Damit meldet sich der langjährige freie und feste ARD-Mitarbeiter in die Debatte um die geplanten Streichnungen des Senders im Literaturprogramm zu Wort – und appelliert eindringlich, diese zu überdenken.

Norbert Schreiber richtet seinen Offenen Brife an Tom Buhrow, Intendant des WDR, Valerie Weber, Programmdirektorin WDR, und Matthias Kremin, Programmchef WDR 3.

Im Wortlaut heißt es:

Sehr geehrter Tom Buhrow,

sehr geehrte Valerie Weber,

sehr geehrter Matthias Kremin,

mehr als 40 Jahre war ich als "fester Freier" und auch als festangestellter Redakteur für die ARD-Anstalten und zuletzt als verantwortlicher Politikredakteur für den Hessischen Rundfunk tätig, dort unter anderem für die Politiksendung "Frankfurter Gespräch" und "Das Politische Buch".

Gerne erinnere ich mich auch an meine Beiträge in den aktuellen Sendungen für den WDR und mit besonderer Freude an die Gespräche im Mittagsmagazin des WDR, etwa mit der Radiolegende Jürgen Haller und vielen anderen.

Als Rentner und ARD-a. D. betreibe ich das Buch-Portal www.facesofbooks.de und stelle fest, dass Literatur und Bücher im Internet zunehmend Beachtung finden, während der Einfluss der Buchredaktionen und ihrer Sendungen in den ARD-Anstalten (was für ein Wort?!) zunehmend abnimmt.

Unter dem Deckmantel, neue Formate (vor allem für Mainstream und Quote) zu erfinden, werden die Kern-Kompetenzen des öffentlich-rechtlichen Radios ausgehöhlt. Auch das Fernsehen bietet für Bücher und Literatur nur noch Nischen-Reservate.

Wie viel Kulturauftrag soll noch aufgegeben werden, bis das öffentlich-rechtliche Radio in bloße Musikwellen hinein diffundiert ist, mit dem besten Mix von irgendwas und Moderationen, die mich mehr an Kindergarten-Geplappere erinnern und mich als Hörer als Vierjährigen anspricht. In "Momas' und "Mimas" findet im Fernsehen Entsprechendes statt.

Das "Elend der Intellektuellen" (Sontheimer) möchte ich gar nicht erst ansprechen, aber darauf hinweisen, dass Diskurse – weitgehend aus den Medien verbannt – in die Buchproduktion abgewandert, in den Sendungen die Talkformate jedoch mit den immer gleichen Gästen und Fragestellungen Mode geworden sind, mit dem Ergebnis, dass der Informations- und Neuigkeitswert in Richtung Null strebt.

In den Nachrichtensendungen haben persönliche Ebenen nach dem Motto, Das ist ja alles schlimm, Das bleibt ja spannend, Was macht das mit ihnen, nichts aber auch gar nichts zu suchen. Und auch die exponentiell anwachsenden Straßenumfragen nicht mit journalistischen, sondern Fragestellungen à la Was fühlen Sie bei Corona? gehen auf den Geist.

Was hat das alles mit Buchsendungen zu tun?

Wer auf Inhalte und deren Vermittlung noch ein bisschen Wert legt, findet dort ein Zuhause, mindestens jedoch vorläufiges Unterkommen, weil sich noch Kritisches findet, das Hinterfragen von Thesen und gesellschaftlichen Entwicklungen geübt wird, weil dort Wertefragen und auch Historisches noch immer einen würdigen Platz finden. Man findet als Hörer und Zuschauer noch den öffentlich-rechtlichen Auftrag widergespiegelt, im Gegensatz zu allen Trends in den Hauptprogrammen und Primetime.

Ich erinnere mich noch gut an die Aussagen eines ehemaligen Chefredakteurs, "ach Internationales, das interessiert doch keinen Hörer", als es mal wieder darum ging, Sendungen einzusparen. Spätestens die Entwicklungen in den USA und die Pandemie machen klar, wie unsinnig dieser Satz war und ist.

Ich sehe ja ein, dass es ein ziemlicher Aufwand ist, den ich gerade betreibe, die über 1000-Seiten-Obama Memoiren abzuarbeiten, in Zeiten des Turbojournalismus, aber ist es, wie ich meine, wichtig es auch in Sendungen zu tun. Wir dürfen uns nicht über Trump und ähnliche Trends beschweren, wenn unsere Berichterstattung auch auf Twitter-Niveau absinkt.

Oder etwa so: Drei kurze Fragen, drei Antworten, Statement 0:30, bitte um kurze Antwort in 30 Sekunden vor den Nachrichten.

In Buchsendungen werden auch Demokratiefragen noch ausführlicher behandelt. Wollen wir diese Debatten Querdenkern, Covidioten und Afd-lern überlassen?

Wenn weniger Bücher in Sendungen zur Kenntnis genommen werden, verarmt die Vielfalt, und "die Kleinen Verlage", auch die unbekannteren Autoren haben gar keine Chance mehr. Es entsteht Uniformität statt Diversität.

Der Buchmarkt ist auch keine zu unterschätzende Branche, sie ist mit Milliardenumsätzen ein wichtiger Wirtschaftsfaktor.

Hinzu kommt, dass unsere Corona-Quarantänen und Lockdown-Situationen geradezu bestens dazu geeignet sind, wieder einmal zu einem Buch zu greifen, und Kulturelles ist auf dem freien Kulturmarkt jetzt sowieso stark bedroht. Da ist doch die Lücke für den Kulturauftrag der Medien und für Bildung.

Martin Walser müsste sich noch gut an seine Radiozeit beim Südwestfunk erinnern, Dürrenmatt ohne seine Hörspiele nicht denkbar, Alfred Andersch eine Ikone der Literaturberichterstattung bei "meinem" Sender HR. Wollen wir diese Traditionen aufs Spiel setzen? Und nächste Generationen, was sollen sie im Hörfunkarchiv dann vorfinden, die Hits der 70er, der 80er und sonst nichts?

Ich habe 25 Jahre als freier Journalist für die ARD gearbeitet und kenne die soziale Situation eines freien Kollegen sehr, sehr gut, das freie Element im Journalismus ist das "Salz in der Suppe" unseres Geschäfts. Ich halte freien, durch Finanzengpässe jetzt bedrohten Journalismus für systemrelevant, daher sind solche Programmüberlegungen, meiner Auffassung nach, bitte sorgfältig zu überprüfen.

Im Interesse der Programmvielfalt sollten vielleicht auch andere Einsparmöglichkeiten zu finden sein, vielleicht zuallererst bei externen Beratungsfirmen, deren Sachkenntnis über Medien mehr als dürftig ist.

Rundfunk ist Sache der Allgemeinheit, wir als Journalisten sind nur die Sachwalter der Hörerin und des Hörers. Radio und Fernsehen gehören weder den Parteien noch den Machern. In der öffentlichen Debatte um das öffentlich-rechtliche Prinzip scheint das irgendwie vergessen worden zu sein. So steht es in den Rundfunkgesetzen und in unserer Verfassung.

Verstehen Sie meinen Brief bitte nicht als Meckerei eines verrenteten altgedienten Besserwissers, sondern als die eines Kollegen, der eben meint, dass es den Redaktionen guttut, wenn Reaktionen auch "von außen" kommen.

Angesichts der Dringlichkeit und der Aktualität des Themas bitte ich um Verständnis, dass ich diesen Brief als offenen Brief behandele.

Mit besten Grüßen

Norbert Schreiber