Solange ich mich erinnern kann, habe ich quasi-astrale Sehnsüchte; also den Wunsch, ganz losgelöst von meinem Körper und den mit ihm einhergehenden Verpflichtungen, Manifestationen, Zipperlein, zu existieren. Am besten: immer und immer unter der Decke zu schweben und zu beobachten. Dasein, ohne teilzunehmen. Das hängt neben einem Hang zur tiefempfundenen Andersartigkeit sicher auch irgendwie zusammen mit den Eigenschaften, aus denen sich mein Autorinnendasein speist. Bis jetzt habe ich aber noch nicht heraus gefunden, wie das gehen kann. Und deswegen esse ich brav und trinke und konversiere – wenn ich muss, sogar am Telefon. Und genieße jedes Dazwischen.
Das Altern selbst ist mir bei meiner mühsam akzeptierten irdischen Existenz eigentlich egal; was vielleicht eine hilfreiche Einstellung ist? Weil ich eigentlich nicht für die Jugend oder das Alter gesehen werden möchte. Weil ich nur tun kann, was mir liegt. Vorher und jetzt und nachher.
Allerdings ist es auch schon passiert, dass mir ein Text vorschwebte, von dem ich irgendwann wusste, dass ich noch nicht bereit für ihn war. Dass mir das Handwerkszeug fehlte. Dass ich die Idee liegen lassen und mich gehen lassen musste, noch eine Runde um den Block und vielleicht noch ein paar Jahresverläufe lang, bis das Timing zwischen diesem Roman und mir irgendwann hinhauen würde. Und über diese Erkenntnis und auf diese Zeit und auf dieses Buch und diese Version von mir, die in der Lage gewesen sein wird, dieses Buch zu schreiben, freue ich mich eigentlich – ob der Betrieb diese Vorfreude teilt? Fragen Sie doch den Betrieb!
Zwangsläufig gerät man in einen Neid-konflikt mit den jungen, energischen, mit den Emblemen der ungeduldigen Frauen bestickten Katalogen, auch wenn ich das gar nicht will, aber es ist so; ein schnodrriges Lippchen, ein Der-Welt-eine-Delle-machen, Jack London oder Heinrich Böll hätten heute keine Chance mehr. Helga Schubert ist eine Ausnahme; sie darf noch „alt sein“.
Man braucht nur das Augenmerk auf Stipendien (in diesem Alter?) oder auf Ausschreibungen, Preise zu richten: man unterstützt - zurecht - lieber den Nachwuchs, wer es bis 55 nicht „geschafft“ hat, braucht es mit 60 auch nicht mehr, aber ohne die „alten“ Kollegen/innen wäre die Literaturszene nicht das, was sie heute ist;
bei der Lektüre mancher Texte ertappe ich mich bei Aufsätzen der Unterstufe oder Teenie-befindlichkeiten, bei Lesungen, kann ich mit einem Blusen-Ausschnitt, einer schicken Brille, nett geschminkt und luftigem Kleid etc. nicht punkten, ich punkte gar nicht mehr.
Das Durchschnittsalter der (vorwiegend) Lektorinnen ist bei 35 bis 40 angekommen, was an sich kein Problem ist, nur: das Verständnis für Inhalte eines/r 60 oder 70jährigen Kollegen/in ist spärlichst; bestimmte Inhalte sind für diese Generation nicht mehr nachw(!)ollziehbar.
Ich laufe langsam aus, wie eine Farbträne auf einem Aquarell, gegenteilige Argumente beweisen nur die Realität.
Die Fluktuation am Literaturmarkt, eine Art Planten-umkreisungs-bewegung ist erstaunlich, beängstigend, normal geworden, und ich erfahre diese Mobilität aus Börsenblättern oder Nebenbemerkungen in social medias - von dtv zu Fischer zu Kiwi, dann nach Ullstein und Hanser und dann doch die eigene Agentur um endlich bei Suhrkamp zu landen, während ein noch immer lebender Autor, durchaus in die Jahre gekommen, in aller Bescheidenheit versucht, ein Lektorat zu finden, das versteht! Weniger Verständnis, sondern Verstand hat, das haben dann die Pflegekräfte oder der Buschauffeur bei kurvigen Straßen, mit dem Hinweis, daß sich ältere Mitbürger besser setzen sollten. Mehr nicht. Denn nach einer durchaus akzeptablen literarischen Biographie brauche ich als Autor meine Beweggründe nicht mehr zu deklinieren, warum ein Baum rot ist. Warum überhaupt mein Thema für diesen oder jenen Verlag von Interesse sein sollte. Verkauft sich das? Die Halbwertszeit eines Titels liegt offenbar - mit wenigen Ausnahmen - bei zehn bis zwölf Monaten.
Ich bin nicht sicher, ob Sie - bei bestem Willen und Verständnis - am Ende meine Sicht nachvollziehen können; ich bin weiß, alt und meine Sprache hat noch etwas mit Martin Buber zu tun; alles Kriterien, die auf dem Markt nicht mehr gefragt sind.
Ich wollte Ihren Börsenblatt-Artikel nicht unbeantwortet lassen, mehr nicht
und Ihnen alles Gute wünschen, von Herzen,
shalom, shavua tov (eine gute Woche)
Hans Augustin