Gerrit Bartels geht im "Tagesspiegel" ebenfalls auf die Kontroverse um den Leipziger Buchpreis in diesem Frühjahr ein und kommt zu der Einschätzung, dass sich die Frankfurter Jury "in dieser Hinsicht keine Blöße gegeben" habe. Zahlreiche Romane auf der Longlist erzählten Migrations- und Emanzipationsgeschichten. Schön sei insbesondere, dass Henning Ahrens mit „Mitgift“, Gert Loschütz mit „Besichtigung eines Unglücks“, Thomas Kunst mit "Zandschower Kliniken“, Ferdinand Schmalz mit „Mein Lieblingstier heißt Winter“, Peter Karohsi mit „Zu den Elefanten“ und Dietmar Dath mit „Gentzen oder: Betrunken aufräumen“ nominiert worden seien, so Bartels. "All diese Autoren schreiben eine mitunter eigenwillige Prosa jenseits literarischer Moden."
Vielfalt und Ausgewogenheit der Liste bringt die "Frankfurter Rundschau" unter der Überschrift "Realistisch" auf folgende Formel: "Insgesamt sucht die Liste den Ausgleich zwischen Leichtgängigem und Verschlossenem, zwischen Männern und Frauen, zwischen Herkünften und Identitäten von Autoren und Autorinnen, ferner zwischen sehr dünnen und sehr dicken Büchern (Goldschmidt versus Dath). Das wirkt nicht vorsichtig, eher realistisch. Echte Außenseiternominierungen haben es im Realismus allerdings schwer."
"Kein Futter für einen Shitstorm"
Mit der "betont ausgewogen" zusammengestellten Longlist hadert Iris Hetscher in den "Bremer Nachrichten". "Elf mal männlich, acht mal weiblich, einmal divers; weiß, nicht-weiß, jung, alt. Geschichtswälzer sind nominiert, Familienromane, Bücher, die sich mit Identitätsfragen auseinandersetzen, Surreales. Kein Futter für einen Shitstorm. Genau wegen dieser Kuscheligkeit muss die Frage erlaubt sein, wie stark die Jury darauf geachtet hat, jeglichen Unmut zu vermeiden. Eine Zeitgeist-Zwangsjacke wäre genauso unpassend für die Debatte über deutsche Gegenwartsliteratur wie das Ignorieren neuer Strömungen und Autoren."
Wer auf der Liste fehlt
Bezeichnend ist in den Augen mancher Kritiker nicht nur die Liste selbst, sondern die Abwesenheit wichtiger Autorinnen und Autoren, die in diesem Jahr hochkarätige Bücher veröffentlicht haben. Andreas Platthaus nennt hier Judith Hermann ("Daheim"), Eva Menasse und Jenny Erpenbeck. "Menasse und Erpenbeck haben so etwas wie den Buchpreisfluch auf sich geladen. Egal, wie sehr ihre Bücher gepriesen und gekauft werden, sie bekommen den Preis nicht."