Was verstehen Sie unter Diversität und Vielfalt in Verlagsprogrammen?
Als ich in jungen Jahren anfing, mich mit Büchern zu beschäftigen, las ich mich erst einmal durch die Klassiker der Weltliteratur, stellte aber irgendwann fest, dass mir die weibliche Perspektive fehlte: Die Bücher waren fast alle von Männern geschrieben. Ich bemühte mich daraufhin, Romane von Schriftstellerinnen zu finden, mit denen ich mich besser identifizieren konnte, musste aber feststellen, dass das gar nicht so einfach war, denn angeboten wurden mir vor allem Romane von männlichen Autoren. Darum geht es auch bei der Diversität in Verlagsprogrammen: Landen nur Bücher auf dem Markt, die nur eine bestimmte Sichtweise auf die Welt bieten, oder besteht publizistische Vielfalt? Haben alle jederzeit Zugang zu Büchern, die von Autorinnen und Autoren ganz unterschiedlicher Herkunft, Klassenzugehörigkeit, Genderidentität stammen? Die ganz unterschiedliche gesellschaftliche und künstlerische Ansätze ausprobieren? Oder werden uns überwiegend Bücher angeboten, die ähnliche Milieus beschreiben und deren Figuren ähnliche Hintergründe haben?
Gute Bücher leben davon, dass sie uns die Welt auf eine Weise präsentieren, wie wir sie noch nicht gesehen haben, dass sie uns aufrütteln, überraschen, zum Nachdenken bringen. Das kann nur gelingen, wenn Vielfalt herrscht, und das gilt für beides: Die Autorinnen und Autoren selbst, aber vor allem auch für ihre Texte, ihre literarischen Ansätze, ihren Wagemut und ihre jeweilige Fähigkeit, mit Sprache umzugehen. Diversität sollte sich deshalb nicht nur auf die Persönlichkeit des Autors oder der Autorin beziehen, sondern auch auf ihren Willen, neue, andersartige, interessante Literatur entstehen zu lassen.
Diversität ist in aller Munde – kommt man als Verlag an dem Thema überhaupt noch herum?
Ich fände es falsch, Diversität als Modethema zu betrachten, als etwas, das jetzt gerade „in“ ist und morgen schon wieder Schnee von gestern, also irrelevant sein könnte. Eigentlich sollte Diversität in allen nur erdenklichen Bereichen, also natürlich auch in der Buchbranche und in den Verlagsprogrammen, eine Selbstverständlichkeit sein. Ich wüsste also nicht, warum man darum herumkommen wollen sollte. Spannend zu publizieren hat für mich eher damit zu tun, auf Entwicklungen mit Neugier und Offenheit zu reagieren als sich abzuschotten. Insbesondere dann, wenn diese Entwicklungen das Potenzial haben, unsere Gesellschaft offener und vielfältiger zu machen.
Wie setzen Sie Diversität konkret um? Insbesondere im Hinblick auf LGBTQ+ Menschen?
Wie wir es in den letzten Jahren schon gemacht haben und auch in Zukunft tun werden: Durch die Bücher, die wir publizieren, ganz unabhängig von Trends oder selbstauferlegten Vorgaben, sondern als ganz selbstverständliche Voraussetzung für ein interessantes und lebendiges Verlagsprogramm. Dafür gibt es in unseren letzten Programmen zahlreiche Beispiele: Jonas Eikas Erzählungen, in denen die Figuren alle herkömmlichen Kategorien hinter sich lassen, Maggie Nelsons „Die Argonauten“, Jayrôme C. Robinets Buch über seinen Weg von einer weißen Frau zu einem jungen Mann mit Migrationshintergrund, Daniel Schreibers „Zuhause“, das von Heimat und Zugehörigkeit und der Kindheit eines schwulen Jungen in einem mecklenburgischen Dorf erzählt, um nur einige wenige Beispiele zu nennen – allesamt Bücher, die sich um Erfahrungen von queeren Menschen drehen, um Marginalisierung, Stigmatisierung und das Anderssein in einer Gesellschaft, die sich immer wieder nach einer vermeintlichen Norm richtet, die es so schon längst nicht mehr gibt.
Und wie schätzen Sie die Absatzchancen ein?
Das ist schwierig zu verallgemeinern, dafür sind die Bücher zu verschieden. Letztlich ist für die Absatzerwartung wichtig, dass ein Buch die Fähigkeit hat, eine breitere Leserschaft über die eigene gesellschaftliche Gruppe hinaus zu erreichen und zu begeistern. Generell beobachten wir Offenheit im Buchhandel und unter Leserinnen und Lesern, oft auch unterstützt durch die Neugier der Literaturkritik.
Was sagen Sie zur Forderung der Queer Media Society, 10 Prozent des turnusmäßigen Mediaoutputs mit queeren Akteur*innen oder Inhalten zu besetzen?
Fürs Campaigning ist es legitim und einleuchtend, eine Quote als Richtwert zu beziffern, und es ist auch eine Art Maßstab, an dem man sich orientieren kann und beispielsweise im Rückblick auf die letzten Programme schauen kann, ob man darüber oder darunter lag. Für die Gestaltung eines Verlagsprogramms wäre eine strenge Orientierung an einer Quote aber etwas zu einfach, da spielen sehr vielfältige Erwägungen (etwa auch die Verbundenheit mit und Treue zu Autorinnen und Autoren) eine Rolle. Das wichtigste Kriterium jedoch bei der Entscheidung für oder gegen ein Buch bleibt für mich die literarische Qualität.
Hinterfragen Sie auch die Mitarbeiterstruktur in Ihrem Verlag? Wie divers oder queer würden Sie Ihr Verlagshaus in seiner Struktur beschreiben?
Ich habe vor über 15 Jahren bei Hanser angefangen zu arbeiten und besaß zu dem Zeitpunkt nicht einmal einen deutschen Pass (ich komme aus Sarajevo, Bosnien Herzegowina). Dass ein Verlag zur damaligen Zeit überhaupt den Mut hatte, eine Nicht-Muttersprachlerin ohne deutsche Staatsbürgerschaft im deutschsprachigen Lektorat einzustellen, zeugt von einer großen Offenheit. In meinem jetzigen Team bei Hanser Berlin sind wir insgesamt sechs Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, davon 5 Frauen, alle mit ganz verschiedenen Hintergründen, was unsere Arbeit jeden Tag bereichert. Mit anderen Worten: Wir sind durchaus divers, trotzdem sollten wir nicht aufhören, unsere Strukturen weiterhin streng zu hinterfragen, um mehr Vielfalt zu erreichen.