Gespräch mit dem Gründer der ukrainischen Factor-Gruppe

"Gebt uns nicht Fische, sondern eine Angel"

22. Juli 2022
Torsten Casimir

In Charkiw startete Sergii Polituchyi 1991 ein Medienunternehmen, drei Jahrzehnte wirtschaftlichen Aufstiegs folgten. Nun stellt der Krieg auch diese Zukunft infrage. Begegnung mit einem Verlagsmanager, der gar nicht daran denkt aufzugeben.

Geht das? Bücher verlegen mitten im Krieg? Kann man sie nach wie vor drucken und distribuieren? Finden sie ihre Leserinnen und Leser?

Noch in diesem Frühjahr berichtete Galina Padalko von dem zur ukrainischen Factor-Gruppe gehörenden Vivat-Verlag in Charkiw über ihren verlegerischen Anspruch, trotz des Krieges weiterhin neue Bücher auf den Markt zu bringen. Was sie damals im Gespräch mit dem Fachmagazin "Publishing Perspectives" sagte, klang wie ein mutig hoffnungsvolles Dennoch: "Wir wollen diese Normalität." Ein Vierteljahr später ist nun der Gründer und Geschäftsführer von Factor, Sergii Polituchyi, zu Besuch in Frankfurt am Main bei der Börsenvereinsgruppe. Im Gespräch mit dem Börsenblatt nimmt er sich viel Zeit, über die Situation in seiner Heimat zu berichten. Nichts sei derzeit noch normal in der Ostukraine, versichert er.

Aber – zu seiner eigenen Überraschung: "Die wirtschaftliche Situation unserer Verlagsgruppe ist aktuell stabil." Die Buchproduktion, allen Widrigkeiten zum Trotz, sei bisher nicht zum Erliegen gekommen. "Noch nicht", wie der Verlagsmanager skeptisch ergänzt. Im vergangenen Jahr habe seine Unternehmensgruppe (zu der mit Factor-Druk auch eine der großen ukrainischen Druckereien gehört) im Buchverlagsbereich 440 Neuerscheinungen herausgebracht, etwa eine Million Bücher seien verkauft worden. Der Geschäftsplan für 2022 sah eine weitere Steigerung von Produktion und Absatz um 20 Prozent vor. Dann kam Putins Überfall auf die Ukraine, Pläne verloren von heute auf morgen ihre Gültigkeit. "Dennoch haben wir uns vor allem im ersten Quartal gut behauptet", berichtet Sergii Polituchiy.

"Wir stehen vor einem fürchterlichen Winter"

Zugute gekommen sei ihm dabei zweierlei: Zum einen ein unerwartet großer Bestseller-Erfolg mit einem Buch des 1985 gestorbenen ukrainischen Dichters und sowjetischen Dissidenten Vasyl Stus, der sich schon vor mehr als einem halben Jahrhundert für die kulturelle Autonomie der Ukraine stark machte – "sein Schicksal bewegt natürlich in der Ukraine von heute die Menschen". Wirtschaftlich vorteilhaft ausgewirkt habe sich außerdem der Umstand, dass die Regierung im Vorjahr als Kulturförderungsmaßnahme beschlossen hatte, eine Einmalzahlung von 1000 Hrywnja, zweckgebunden für kulturelle Ausgaben, an jeden erwachsenen Ukrainer zu leisten. "Das ist zum Jahreswechsel passiert und hat uns im Buchmarkt zunächst auch geholfen."

Was überdies das anhaltende Interesse an Büchern erklären helfe, sei die Tatsache, "dass in vielen nicht-besetzten und vom Krieg nicht direkt betroffenen Gebieten – das sind immer noch 80 Prozent des Landes – bisher ein relativ normales Leben weiterläuft", erläutert der Mann aus der Verlagsmetropole und Millionenstadt Charkiw.

Die geschäftlichen Aussichten auf die nächste Zeit bewertet der Factor-Chef dennoch als trübe. "Unsere Situation wird von Monat zu Monat schlechter. Wir stehen vor einem fürchterlichen Winter." Ein Wirtschaftsjahr wie 2021 rücke für die Factor-Gruppe in nicht mehr erreichbare Ferne. Insbesondere die Druckereibetriebe in Charkiw steckten in großen Schwierigkeiten. Einige Gebäude seien von der russischen Armee beschossen worden. Ein Teil der Produktion konnte auf Standorte in der Westukraine verlegt werden. Derzeit arbeiten Polituchyi zufolge nur noch 40 Angestellte bei Druk, vor dem Krieg waren es 500. Papierkrise, miserable logistische Verhältnisse und massiv steigende Kosten in allen Bereichen treiben die Druckbranche in eine immer tiefere Krise. "Bald können wir gar nicht mehr drucken. Unsere Lagerbestände gehen zur Neige."

Plädoyer für intensivere Vernetzungsmöglichkeiten

Welche Hilfe kommt aus den internationalen, insbesondere westeuropäischen Buchmärkten? "Es gibt bewegende Zeichen der Solidarität von Kollegen überall in der Welt", erzählt Sergii Polituchyi, "das gibt dir das Gefühl, nicht allein in dieser gerade aus den Fugen geratenen Welt zu sein." Wo es um konkrete wirtschaftliche Unterstützung geht, erinnert der Factor-Gründer an eine alte Weisheit: "Gebt den Bedürftigen nicht Fische, sondern eine Angel."

Was beispielsweise zu der Frage führen kann: Wie steht es mit dem Ausbau des Lizenzgeschäfts? Polituchyi räumt ein, dass das internationale Geschäft für ukrainische Verlage auch in den Jahren vor dem Krieg stets ein schwieriges gewesen sei; das habe sich nicht verändert. Das Problem sei womöglich ein wechselseitiges: "Viele von uns in der Ukraine sind immer noch nicht so selbstbewusst, ihr Business in Richtung Westen internationaler aufzustellen", erklärt er. Auf der anderen Seite nehme er Europa und die westliche Welt immer schon als einen "closed club of publishers" wahr. "Interessant für den Westen und Europa sind unsere Printing Services, aber nicht unsere Verlagsprogramme."

Sein Plädoyer geht in Richtung intensiverer Vernetzungsangebote für junge Verleger:innen und Mitarbeitende in ukrainischen Verlagen mit der westlichen Verlagswelt. Hier könnten etwa Formate der Frankfurter Buchmesse wie das Fellowship-Programm dabei helfen, die West-Ost-Kontakte zu stärken. Tobias Voss, bei der Frankfurter Buchmesse Bereichsleiter für Internationale Beziehungen, bestätigt, dass in seinem Haus aktuell ein besonderes Augenmerk auf die Kolleginnen und Kollegen aus der Ukraine gerichtet werde.

"Business ist am Ende nicht geldgetrieben"

Die Vivat-Zahlen im Lizenzgeschäft unterstreichen den ernüchternden Befund einer nach wie vor mangelnden geschäftlichen Verbundenheit. Im vergangenen Jahr seien im Bereich der fiktionalen Bücher zwar 133 Copyright-Lizenzen eingekauft worden, davon 15 aus Deutschland, berichtet Polituchyi. Lizenzverkäufe aus dem eigenen Programm habe es im selben Zeitraum dagegen nur 34 weltweit gegeben, vier davon nach Deutschland.

Die Zahlen weisen in den Augen des Verlagschefs auf das Kernproblem hin: "Wirtschaftlich wie auch kulturell ist die Ukraine noch immer kein selbstverständlicher Teil der Weltgesellschaft." Im Bereich der fiktionalen Literatur gebe es schlicht ein Wahrnehmungsproblem: "Alle in Deutschland kennen Zhadan, aber fast alle eben auch nur ihn." Zeichen der Solidarität seien zwar enorm wichtig, aber für eine Belebung der wirtschaftlichen Beziehungen bedürfe es überdies auch des konkreten kollegialen Interesses an der ukrainischen Buchproduktion.

Polituchyi, geboren in Russland an der Wolga, kam Anfang der 1980er Jahre als junger Mann nach Charkiw. Er wurde promoviert in Wirtschaftswissenschaften, machte Karriere in der regionalen Energiewirtschaft, trat bald in das sowjetisch-amerikanische Joint Venture "New Information Technologies" ein, engagierte sich politisch im Stadtrat von Charkiw und gründete mit Factor 1991 sein eigenes Unternehmen. Das hatte den ursprünglichen Schwerpunkt, Fachinformationen vor allem im RWS-Segment anzubieten. "Eine faszinierende Zeit des Umbruchs damals", erinnert er sich, "wir schauten plötzlich auf Märkte, nicht mehr auf Pläne."

Auf seine einstige Motivation, ein eigenes Unternehmen zu starten, blickt er drei Jahrzehnte später geläutert: Klar sei es seine Idee gewesen, "das Leben meiner Familie angenehmer zu machen – easy enough, not rich". Heute schaut er anders auf seinen damaligen Antrieb: "Business ist am Ende nicht geldgetrieben. Business ist wie Sport, du versuchst, dir selbst zu zeigen, was alles möglich ist. Als Unternehmer trete ich in einen Wettbewerb mit mir selbst."

Keine Resignation

Unter dem Dach von Factor ist vieles möglich und real geworden – was die Kennzahlen vor Beginn des russischen Angriffskriegs, die das Unternehmen publiziert hat, deutlich machen:

  • Bei Factor-Druk wurden 450 Millionen Bücher, Zeitungen und Zeitschriften sowie Magazine gedruckt.
  • Der Fachverlagsbereich Factor Media bedient mit seinen Online- und Offline-Angeboten zwei Millionen Professionals in der Ukraine.
  • Der Buchverlag Vivat hat mittlerweile eine Backlist von 5000 Titeln; Vivat-Bücher werden weltweit in 27 Ländern gelesen.
  • Die Factor-Academy betreibt B2B-Aus- und Weiterbildung mit Online-Kursen, Webinaren und Seminaren.
  • Relativ neu ist der Unternehmensteil ROZUM, in dem es um Spiel-basierte Bildungsangebote an Kinder und Jugendliche geht.

Eine Geschichte dynamischer Entwicklung und Prosperität. Seit dem 24. Februar 2022 steht, wie so vieles in der Ukraine, auch diese gedeihliche Geschichte in der Gefahr abzubrechen. Aber an Sergii Polituchyi ist nicht die Spur von Resignation zu erkennen. Er denkt über die Zeit des Krieges hinaus, reist ins Ausland, knüpft internationale Kontakte, bahnt neue Beziehungen an. Und ist sich sicher: "Unsere Bewegung in Richtung Westen wird weitergehen, unsere Zivilgesellschaft wird sich weiter stark wandeln. Auf der Landkarte der Europäischen Union wird ein neues Mitglied erscheinen."