Das Lesen begegnet als "anderer Zustand", der das Verhältnis zur Welt und zu den Mitmenschen verwandelt; der zur Empathie befähigt und einen kreativen Umgang mit Gesellschaft und Welt befördert. Man stelle sich nur einmal vor, wie viele (fiktive) Orte und Zeiten in jeder Bibliothek, jeder Buchhandlung stecken: ein Multiversum (literarischer) Welten, im besten Falle jede ein Kosmos für sich, mit Figuren, Schauplätzen und Schicksalen.
Dystopischer Zustand
Schon zu Beginn der Pandemie konnte man ein ausgeprägtes Interesse an bestimmten Romanen und Sachbüchern beobachten, über Ländergrenzen hinweg. Ein Buch, das den dystopischen Zustand einer Welt, die sich plötzlich nach außen und innen abriegelt, schildert, ist Albert Camus’ "La Peste". Im Buchhandel waren die lieferbaren Exemplare sehr schnell verkauft, danach gab es nur noch antiquarisch Exemplare, und die Verlage ließen mehrere Auflagen nachdrucken.
Aber was der Impuls, die "Pest" wieder aus dem Bücherschrank hervorzuholen oder neu zu bestellen, verriet, war der Wunsch, etwas über den Umgang mit einer tödlichen Seuche zu erfahren, Orientierung und Halt zu bekommen in der aktuellen, realen Krise.
Gedruckte Hausapotheke
Noch ein anderes Motiv war erkennbar, als etwa Literaturkritiker Denis Scheck Ende März seine Top Ten für die Corona-Zeit präsentierte – darunter Marcel Prousts "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit", Bocaccios "Dekameron" und Thomas Manns "Tod in Venedig": das durch die Pandemie erschütterte, verängstigte Selbstbewusstsein mit kanonischer Literatur zu stärken. Mit Büchern, die nicht so sehr ein bildungsbürgerlicher Fundus sind als wirkliche Lebensbegleiter. Dafür kommen auch Lyrikbände infrage, etwa die "Lyrische Hausapotheke" Erich Kästners mit Gedichten für missliche Lebenslagen aller Art.
Jedenfalls bieten Bücher einen großen Fundus an Überraschungen, die man erst dann wieder sieht, wenn man mehr Zeit für sich hat. Und da kommt es dann immer wieder darauf an, wie man selber die Schwerpunkte seiner eigenen Büchersammlung gesetzt hat.
Harald Kraft