Zur Rolle des Buchs in der Pandemie

Die Renaissance der Lektüre

7. Januar 2021
Michael Roesler-Graichen

Das Buch erweist sich in der Pandemie als vitales Medium, aller Konkurrenz von Streaming und Gaming zum Trotz. Viele Menschen haben den Wert der Lektüre neu entdeckt, gerade in Zeiten des Rückzugs. Teil 2 eines Essays zur Corona-Lage.

Als der Börsenverein 2018 seine Studie "Buchkäufer – Quo vadis?" veröffentlichte, schien es um das Buch, dieses über 500 Jahre alte Medium, nicht gut zu stehen. Die große Konkurrenz in Gestalt von Streamingdiensten und Gaming-Plattformen, die schrumpfenden Zeitbudgets und immer mehr Leser*innen, die in die Zentrifuge sozialer Netzwerke und von Messengerdiensten geraten waren, trugen dazu bei, dass weniger gelesen wurde und sich immer mehr Bücher auf Nachttischen stapelten. Dem Buchhandel sind so über die vergangenen Jahre mehr als sechs Millionen Leser*in­nen abhandengekommen.

Doch als im März 2020 das öffentliche Leben in Deutschland weitgehend zum Stillstand kam und die Menschen sich ins Private zurückzogen – da hatte es den Anschein, als ob das Buch plötzlich wieder an Attraktion gewonnen hätte. Es wird daher in diesem Jahr zu den interessanten Befunden der Konsumforschung gehören, ob die Zahl der Leser*innen – und demnach auch der Buchkäufer*innen – nach dem (ersten) Corona-Jahr wieder zugenommen haben wird oder nicht.

Das Interesse an dem Medium und auch speziell an bestimmten Titeln hat Gründe. Das Bedauern, das "Abwanderer" aus der Buchwelt darüber äußerten, dass sie trotz der Zuneigung zum Buch nicht mehr die Zeit oder die Konzentration aufbrächten, um Bücher zu lesen, ist die Kehrseite eines existenziellen Bedürfnisses, sich mittels literarischer Lektüre in anderen Welten zu bewegen, "Zeitreisen" zu unternehmen, alternative Lebensläufe und Geschichten zu erkunden und über den Umweg der Literatur die eigene Welt in einem anderen Licht zu sehen. Oder aber: sich durch Sachbücher über Zusammenhänge in einer unübersichtlich gewordenen Welt zu informieren.

Ein Trend 2020: das verängstigte Ich mit kanonischer Literatur zu stärken.

Das Lesen begegnet als "anderer Zustand", der das Verhältnis zur Welt und zu den Mitmenschen verwandelt; der zur Empathie befähigt und einen kreativen Umgang mit Gesellschaft und Welt befördert. Man stelle sich nur einmal vor, wie viele (fiktive) Orte und Zeiten in jeder ­Bibliothek, jeder Buchhandlung stecken: ein Multiversum (literarischer) Welten, im besten Falle jede ein Kosmos für sich, mit Figuren, Schauplätzen und Schicksalen.

 

Dystopischer Zustand

Schon zu Beginn der Pandemie konnte man ein ausgeprägtes Interesse an bestimmten Romanen und Sachbüchern beobachten, über Ländergrenzen hinweg. Ein Buch, das den dystopischen Zustand einer Welt, die sich plötzlich nach außen und innen abriegelt, schildert, ist Albert Camus’ "La Peste". Im Buchhandel waren die lieferbaren Exemplare sehr schnell verkauft, danach gab es nur noch antiquarisch Exemplare, und die Verlage ließen mehrere Auflagen nachdrucken.

Aber was der Impuls, die "Pest" wieder aus dem Bücherschrank hervorzuholen oder neu zu bestellen, verriet, war der Wunsch, etwas über den Umgang mit einer tödlichen Seuche zu erfahren, Orientierung und Halt zu bekommen in der aktuellen, realen Krise.

 

Gedruckte Hausapotheke

Noch ein anderes Motiv war erkennbar, als etwa Literaturkritiker Denis Scheck Ende März seine Top Ten für die Corona-Zeit präsentierte – darunter Marcel Prousts "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit", Bocaccios "Dekameron" und Thomas Manns "Tod in Venedig": das durch die Pandemie erschütterte, verängstigte Selbstbewusstsein mit kanonischer Literatur zu stärken. Mit Büchern, die nicht so sehr ein bildungsbürgerlicher Fundus sind als wirkliche Lebensbegleiter. Dafür kommen auch Lyrikbände infrage, etwa die "Lyrische Hausapotheke" Erich Kästners mit Gedichten für missliche Lebenslagen aller Art.

Bücher der Stunde

Albert Camus: "Die Pest"
Der Roman von 1947, der eine Pestepidemie im nordafrikanischen Oran schildert, war in Frankreich zu Beginn der Corona-Pandemie das gefragteste Buch. Auch in Deutschland waren die lieferbaren Exemplare binnen kürzester Zeit vergriffen und nur noch antiquarisch zu ergattern. Rowohlt ließ in Windeseile mehrere Auflagen nachdrucken.

Ferdinand von Schirach, Alexander Kluge: "Trotzdem"
"Das Corona-Virus hat uns an eine Zeitenwende gebracht. Beides ist jetzt möglich, das Strahlende und das Schreckliche": Der Werbetext für diesen kleinen, im Mai 2020 erschienenen Gesprächsband zur Krise trifft den Nagel auf den Kopf – und lässt sich mühelos auf die Buchwelt übertragen. Luchterhand kann sich über das Strahlende freuen: den zweiten Platz in den Sachbuch-Charts 2020.

In das Bild einer Buch-Renaissance passt auch, dass jugendliche Leser*innen wieder vermehrt zum Buch greifen, wie die JIM-Lesestudie 2020 belegt. Die tägliche Lesedauer der Zwölf- bis 19-Jährigen liegt mit 74 Minuten um 21 Minuten über dem Wert von 2019. Hinzu kommt, dass die Zahl der Nichtleser abgenommen hat, während gleichzeitig die Zahl der Vielleser gleich blieb.

In gewisser Weise fand auch ein Rückzug auf das Buch statt. Andere Medienangebote und -formate wie Theater, Oper, Kino, Konzerte, Ausstellungen fielen für Monate aus oder zogen weniger Besucher*innen an. Ein Buch ist die ideale, minimalistische Lösung für eine Zeit, in der man von kulturellen Veranstaltungen abgeschnitten ist. Das könnte auch für dieses Jahr gelten, das im Gegensatz zu 2020 ein komplettes Corona-Jahr werden dürfte, auch wenn die Impfkampagnen hoffentlich schon weit fortgeschritten sein werden.

Die Stärke des Mediums Buch – vor allem literarischer Werke – liegt aber noch ganz woanders: in uns selbst. Indem wir beim Lesen die dargestellte Wirklichkeit imaginieren, machen wir sie zum Teil unserer selbst, unserer persönlichen Vorstellungen und Empfindungen, unserer Fantasien. Das hat niemand plastischer zum Ausdruck gebracht als Ray Bradbury am Ende seines dystopischen Romans "Fahrenheit 451", in dem sich die wenigen verbliebenen Buchhüter jeweils ein ganzes Werk einprägen und gleichsam dessen Identität annehmen.

Gunnar Cynybulk, Verleger
Seitdem er Ullstein im Sommer 2019 verlassen hatte, wartete die Branche auf sein Comeback. In der Corona-Krise kehrt der 50-Jährige nun mit einem eigenen Verlag zurück, dessen Name Programm ist: »Wesentliche deutschsprachige und internationale Erzählerinnen aufzuspüren und mit ihnen zu wachsen« – darum soll es in Cynybulks Kanon Verlag gehen.