Deutscher Sachbuchpreis 2023

Wie die Jury die acht Nominierten vorstellt

18. April 2023
Redaktion Börsenblatt

Die Jury für den Deutschen Sachbuchpreis hat die Nominierten für 2023 bekanntgegeben. Es wurden Werke von acht Autor:innen ausgewählt. Das Börsenblatt hat die einzelnen Bücher und Begründungen kompakt zusammengestellt.

Nominiert wurden: Omri Boehm, Teresa Bücker, Ewald Frie, Judith Kohlenberger, Meron Mendel, Hanno Sauer, Martin Schulze Wessel und Elisabeth Wellershaus.

Omri Boehm: Radikaler Universalismus. Jenseits von Identität, Propyläen Verlag

Kommentar der Jury:
Die Idee universell gültiger Grundlagen menschlichen Zusammenlebens scheint aufgerieben: Aus verfeindeten Diskurslagern bezichtigt man einander, Partikularinteressen und ihre Identitätsentwürfe zu überhöhen. Omri Boehm durchkreuzt diese Debatten mit seiner Einladung, universalistische Grundkonzepte neu zu durchdenken. Sein Buch fordert; es schmiegt sich nicht an. Es führt uns zurück zu Figuren wie Hiob, Kant und Martin Luther King, verbindet biblische Geschichten und aktuelle Kontroversen. Es lädt uns ein, zu gegenwärtigen Debatten Distanz einzunehmen, indem wir uns fragen, was die Unterschiede zwischen Interessen und Empfinden, Mittel und Zwecken, oder auch Wert und Würde sind. Politische Philosophie trifft hier auf Gegenwart – mit der anregenden Zumutung, teilbare Grundprinzipien nicht nur als Anpassung und Konsens zu begreifen.

Biografie
Omri Boehm, geboren 1979, ist Associate Professor für Philosophie und Chair of the Philosophy Department an der New School for Social Research in New York. Er ist israelischer und deutscher Staatsbürger, hat u. a. in München und Berlin geforscht. Sein Buch „Kant’s Critique of Spinoza“ erschien 2014 bei Oxford University Press. Er schreibt unter anderem über Israel, Politik und Philosophie in Haaretz, Die Zeit und The New York Times.

Radikaler Universalismus“ wurde von Omri Boehm auf Englisch verfasst und für die deutschsprachige Originalausgabe von Michael Adrian übersetzt.

Teresa Bücker: Alle_Zeit. Eine Frage von Macht und Freiheit, Ullstein Verlag

Kommentar der Jury:
Die Journalistin Teresa Bücker sucht nach dem Weg zu einer für alle Menschen gerechteren Gesellschaft. Weniger Zeit für Erwerbsarbeit aufzuwenden könnte dahin führen: maximal 20 Stunden in der Woche bei voller Bezahlung, gerechter Aufteilung von Care-Arbeit, mehr Zeit für soziale Beziehungen. Und das nicht als individuelles, sondern als gesamtgesellschaftliches Ziel einer „fürsorglichen Demokratie“, die schon in der Familie beginnen müsste; dort, wo durch die Unvereinbarkeit von Arbeit und Haushalt vielfach noch immer der Kern des Problems liegt. Bücker entwickelt nachvollziehbar ein Modell für eine neue Zeitkultur und Zeitpolitik. Damit widmet sich ihr Buch einem Thema, das kein Zeitphänomen, sondern eine soziologische Grundsatzfrage betrifft – und fängt zugleich viele gesellschaftliche, politische und ökonomische Fragen unserer Zeit ein.

Biografie
Teresa Bücker, Jahrgang 1984, ist Publizistin im Bereich Feminismus, Arbeit und Gesellschaft. Seit 2019 ist sie Kolumnistin des SZ-Magazins. Von 2014 bis 2019 war sie Chefredakteurin des feministischen Onlinemagazins EDITION F. Als Expertin wird sie regelmäßig zu Konferenzen und in politische Talk-Sendungen geladen.

Ewald Frie: Ein Hof und elf Geschwister. Der stille Abschied vom bäuerlichen Leben in Deutschland, Verlag C.H.Beck

Kommentar der Jury:
Eine Lebensform ist derart leise verschwunden, dass man sich im Rückblick nur wundern kann: Die bäuerliche Welt mit harte Feldarbeit, dem Melken von Kühen und der Kastration von Ferkeln, der Religiösität und der Selbstversorgung. Der 60-jährige Geschichtsprofessor Ewald Frie entstammt selbst einer Bauernfamilie. Er spricht in diesem Buch mit seinen Geschwistern über die gemeinsame Herkunft und Heimat und lässt liebevoll und unprätentiös eine Lebensweise wiederauferstehen, die vielen nicht mehr vertraut ist. Und er zieht dabei Bilanz: Was ist mit der Verstädterung und der Bildungsexpansion verlorengegangen? Was haben wir mit dem gesellschaftlichen Wandel gewonnen? Dass Frie auf einfache Fragen nicht immer einfache Antworten gibt, zählt zu den Stärken dieses unterhaltsamen wie erkenntnisreichen Buchs.

Biografie
Ewald Frie ist Professor für Neuere Geschichte an der Universität Tübingen.

Judith Kohlenberger: Das Fluchtparadox. Über unseren widersprüchlichen Umgang mit Vertreibung und Vertriebenen, Verlag Kremayr & Scheriau

Kommentar der Jury:
Die europäische Asyl- und Migrationspolitik steckt voller Widersprüche. Flüchtende müssen sich in Lebensgefahr begeben, um Schutz zu finden. Beim Grenzübertritt werden sie gezwungen, Recht zu brechen, um ihr Recht auf Asyl in Anspruch nehmen zu können. Sie sollen schutzbedürftig und gleichzeitig leistungsbereit sein, sich in ihre Aufnahmeländer integrieren, aber ewig Bittstellende bleiben. Judith Kohlenberger zeichnet sehr differenziert nach, wie sich unser Umgang mit Flucht und Vertreibung rechtlich, gesellschaftlich und politisch im 20. und 21. Jahrhundert entwickelt hat und entlarvt die Paradoxien der aktuellen Diskurse. Wie eine humane Asyl- und Integrationspolitik aussehen könnte und wie Europa seiner Verantwortung hier gerecht werden kann, darauf gibt sie kluge und überzeugende Antworten.

Biografie
Judith Kohlenberger ist Kulturwissenschaftlerin und Migrationsforscherin am Institut für Sozialpolitik der WU Wien, wo sie zu Fluchtmigration, Integration und Zugehörigkeit forscht und lehrt. Im Herbst 2015 war sie an einer der europaweit ersten Studien zur großen Fluchtbewegung beteiligt. Ihre Arbeit wurde in internationalen Journals veröffentlicht und mit dem Kurt-Rothschild- Preis 2019 sowie dem Förderpreis der Stadt Wien ausgezeichnet. Neben ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit ist sie im Integrationsrat der Stadt Wien tätig und engagiert sich als Gründungsmitglied von COURAGE – Mut zur Menschlichkeit für legale Fluchtwege. 

Meron Mendel: Über Israel reden. Eine deutsche Debatte, Verlag Kiepenheuer & Witsch

Kommentar der Jury:
Seit Wochen demonstrieren hunderttausende Menschen auf Israels Straßen für den Erhalt ihrer Demokratie. Das Land erlebt die größte Krise seit der Gründung vor 75 Jahren. In seinem teilweise autobiographische Essay „Über Israel reden. Eine deutsche Debatte“ widmet sich Meron Mendel den großen Kontroversen der vergangenen Jahre. Es geht um Israel und die deutsche Staatsräson, um Antisemitismus und Erinnerungskultur, um den Historikerstreit und die Documenta. Als Pädagoge ist Mendel um eine vermittelnde Position bemüht, er will Brücken bauen zwischen den Kontrahenten. Zugleich wagt er sich auch an den Nahostkonflikt selbst und hinterfragt die festgefahrenen Bilder, die Israelis und Palästinenser sich voneinander machen. Ein ruhiges Buch, das um Ausgleich in hitzigen Debatten bemüht ist.

Biografie
Meron Mendel (*1976) wuchs in einem Kibbuz auf, studierte in Haifa und in München Pädagodik und Jüdische Geschichte, promovierte in Frankfurt und ist heute Professor für Soziale Arbeit und Leiter der Bildungsstätte Anne Frank.

Hanno Sauer: Moral. Die Erfindung von Gut und Böse, Piper Verlag

Kommentar der Jury:
Standpunkte in aktuellen gesellschaftlichen Debatten werden zunehmend moralisch begründet. Was ist diese menschliche „Moral“ überhaupt, wie hat sie sich in der Menschheitsgeschichte als erfolgreiches Konzept herausgebildet, welchen universellen Kern hat sie, und welche Ausprägungen von Moral unterscheiden sich zwischen den Kulturen? Sauers umfassende Kulturgeschichte der Moral von den Anfängen der Menschheit bis heute verleiht den hochaktuellen moralischen Debatten unserer Zeit eine solide Basis – klug geschrieben, unterhaltsam und eine Anregung, eigene Überzeugungen zu hinterfragen.

Biografie
Hanno Sauer, Jahrgang 1983, ist Philosoph und lehrt Ethik an der Universität Utrecht. Er ist Autor zahlreicher Fachaufsätze und mehrerer wissenschaftlicher Werke. Zahlreiche Vorträge in Europa und Nordamerika.

Martin Schulze Wessel: Der Fluch des Imperiums. Die Ukraine, Polen und der Irrweg in der russischen Geschichte, Verlag C.H.Beck

Kommentar der Jury:
Die Prinzipien von Freiheit, Demokratie und nationaler Selbstbestimmung werden heute in der Ukraine verteidigt? Das mag pathetisch klingen, aber Martin Schulze Wessel begründet es meisterhaft mit einer Geschichte des Imperiums Russland. Der Osteuropa-Historiker entfaltet die Geschichte Russlands, Polens und der Ukraine seit Peter dem Großen und beschreibt kenntnisreich, wie die imperiale Politik Moskaus gegenüber seinen Nachbarn mit einer anti-westlichen Haltung einherging, die bis heute fortdauert. Es ist eine beklemmende Geschichtsstunde, die die Augen öffnet für das Gedankengut Putins und seines Regimes, für die Verachtung einer westlichen, diversen Zivilgesellschaft.

Biografie
Martin Schulze Wessel ist Professor für die Geschichte Ost- und Südosteuropas an der Ludwig-Maximilians-Universität München sowie Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Von 2012 bis 2016 war er Vorsitzender des Verbandes der Historiker und Historikerinnen Deutschlands.

Elisabeth Wellershaus: Wo die Fremde beginnt. Über Identität in der fragilen Gegenwart, Verlag C.H.Beck

Kommentar der Jury:
Klare Verhältnisse hat es in der Kindheit von Elisabeth Wellershaus nicht gegeben. Als Tochter eines Schwarzen Vaters und einer weißen Mutter wuchs sie in einem wohlhabenden Viertel in Hamburg auf. Jahrzehnte später berichtet die Autorin nun über Fremdheit in Deutschland und über eine Zukunft, die keine festen identitären Zuschreibungen haben kann, wenn sie produktiv sein soll. Es ist der Versuch, die Debatten um Rassismus und Identitätspolitik hinter sich zu lassen und trotzdem nicht zu ignorieren. Ihre subjektive Erzählung bedient sich einer unaufgeregten, sensiblen und sehr genau beobachtenden und beschreibenden Sprache. Die Gewissheit im Hinblick auf Gemeinschaft und Kollektivität findet sie nicht, nur Grauzonen und die Erkenntnis: Das Dazwischen kann ein Zuhause sein.

Biografie
Elisabeth Wellershaus arbeitet als Autorin und Journalistin. Unter anderem schreibt sie Reportagen, Essays und Features, die sich mit der Zuschreibung von Fremdheit und der Auseinandersetzung mit Zugehörigkeit beschäftigen. Sie gehört zum Redaktions-Team der feministischen Kolumne „10nach8“ bei Zeit Online und arbeitet als Redakteurin für das Magazin Contemporary And, das zeitgenössische Kunst aus Afrika und der Diaspora verhandelt.

Über den Deutschen Sachbuchpreis

Mit dem Deutschen Sachbuchpreis zeichnet die Stiftung Buchkultur und Leseförderung des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels das Sachbuch des Jahres aus. Prämiert werden herausragende Sachbücher in deutschsprachiger Originalausgabe, die Impulse für die gesellschaftliche Auseinandersetzung geben.
Bewertungskriterien sind die Relevanz des Themas, die erzählerische Kraft des Textes, die Art der Darstellung in allgemein verständlicher Sprache sowie die Qualität der Recherche. Der mit insgesamt 42.500 Euro dotierte Sachbuchpreis wird bei einer Preisverleihung vergeben.
Kulturstaatsministerin Claudia Roth ist Schirmherrin des Deutschen Sachbuchpreises. Hauptförderer des Preises ist die Deutsche Bank Stiftung, der Preis wird unterstützt von der Stadt Hamburg und der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.

Bisherige Preisträger: 

2022 Stephan Malinowski: "Die Hohenzollern und die Nazis" (Propyläen)
2021 Jürgen Kaube "Hegels Welt" (Rowohlt Berlin)