Nachruf

Christian Stottele ist tot

31. Januar 2025
Redaktion Börsenblatt

Am 25. Januar ist Christian Stottele, Verlagsleiter des Ravensburger Buchverlags von 1962 bis 1993, im Alter von 94 Jahren in Ravensburg gestorben. Ulrich Störiko-Blume, Verlagsleiter u.a. bei Beltz & Gelberg und Hanser Jugendbuch und Leiter der ProjektAgentur, erinnert im Nachruf an den großen Verleger.

Christian Stottele

Er war für alle, die mit Bilderbuch, Kinderbuch und Jugendbuch zu tun haben, eine der prägenden, gestaltenden und innovativen Verlegerpersönlichkeiten der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts. Viele Bücher, die in seiner Ära erschienen sind, sind bis heute lebendige und verkaufsstarke Titel im Sortiment, z.B. "Die Welle" von Morton Rhue, "Als Hitler das rosa Kaninchen stahl" von Judith Kerr, "Ich bin die kleine Katze" von Helmut Spanner, "Die Wolke" von Gudrun Pausewang, "Die Abenteuer der 'schwarzen hand'" von Hans Jürgen Press, die Wimmelbilderbücher von Ali Mitgutsch.

Das blaue Ravensburger-Dreieck auf Büchern und Spielen ist eine der bekanntesten Marken überhaupt in Deutschland. Eine Marke ist eine feine Sache, aber man sollte sich immer wieder klarmachen, dass sie von Menschen geprägt wird (nicht umgekehrt) und nur dann erfolgreich wirkt, wenn sie Inhalte einer bestimmten Qualität liefert, wenn sie also ihr Markenversprechen erfüllt. Um das zu leisten, muss man Macher und Visionär zugleich sein – und so einer war Christian Stottele. Dass die Marke Ravensburger nicht nur für Spiele steht, sondern auch für Bücher, dass der Ravensburger Buchverlag sich zu einem der ganz großen deutschen Kinder- und Jugendbuchverlage entwickelt hat, ist der beharrlichen Arbeit dieses Mannes zu verdanken.

Die ganze Aufmerksamkeit der Ravensburger Marke richtet sich auf die Familie. Dafür den Begriff Zielgruppe zu verwenden, erscheint fast zu kleindimensional, um die gesellschaftliche Bedeutung dieser Orientierung zu erfassen. Familie ist kein ideologisches Desiderat, sondern der – erheblichem sozialen Wandel unterliegende – Ort, wo junge Menschen in diese Welt hineinwachsen, von Erwachsenen verantwortlich begleitet. In Ravensburg lebt man die Überzeugung, dass hierfür Spielen und Lesen entscheidende positive Faktoren sind.

Lebendig, weltoffen und dynamisch

Wie bei so vielen, die nach dem Ende des 2. Weltkriegs an der Schwelle zum Erwerbsleben standen, ergab sich für Christian Stottele kein Hochschulstudium, sondern eine Lehre als Verlagsbuchhändler. Als solcher wirkte er bereits Anfang der 50-er Jahre im damaligen Otto Maier Verlag, verließ aber "Ende 1955 den Verlag, um in der Arbeit bei anderen Verlagen weitere Erfahrungen zu sammeln" ("Festschrift 1883 – 1983: Hundert Jahre Otto Maier Verlag Ravensburg"). 1962 wurde er, damals beim Westermann Verlag  beschäftigt, nach Ravensburg zurückgeworben, um dort etwas völlig Neues aufzubauen: ein Taschenbuch-Programm für Kinder. Im Buchmarkt waren die großen Zeiten des Taschenbuchs angebrochen, und bevor dtv-junior, Rowohlt-Rotfuchs und später viele weitere Reihen gegründet wurden, entstand mit den Ravensburger Taschenbüchern ein umfangreiches und vielfältiges Programm für Kinder und Jugendliche, für lange Zeit das führende und größte. Nach diesem sehr erfolgreichen Start wurde Christian Stottele mit immer weiteren Aufgaben betraut und schließlich 1968 Verlagsleiter für den Jugendbuchverlag.

Er hat es verstanden, hochqualifizierte und engagierte Köpfe in den Verlag zu holen: Hans-Christian Kirsch und Herbert Günther, Herausgeber und Lektor der Ravensburger Jungen Reihe; Bertrun Jeitner-Hartmann, Spezialistin für alle Arten von Kreativbüchern; Elisabeth Raabe und Regina Vitali, die späteren Arche-Verlegerinnen; Friedbert Stohner, der dann das Kinderbuchprogramm bei Hanser aufgebaut hat; Uwe-Michael Gutzschhahn, inzwischen preisgekrönter Übersetzer; Renate Herre, seit langem Carlsen-Verlegerin; Daniela Filthaut, die heute den Gerstenberg Verlag leitet.

Wer im Ravensburger Buchverlag bei Christian Stottele gearbeitet hat, konnte in einer lebendigen, weltoffenen und dynamischen Umgebung eine Menge lernen. Der langjährige Lizenzchef des Buchverlags, Frank Jacoby-Nelson, hat den schönen Slogan geprägt: "Our city dates back to the Middle Ages, but our publishing is up to date." Aus mancher Sicht mag Ravensburg als Provinz gelten, aber schon zu Christian Stotteles Zeiten war völlig klar, dass man deshalb keinesfalls ein provinzielles Buchprogramm macht, sondern die schön gelegene und gut ausgestattete Verlagsbasis als Ausgangspunkt für die Erkundung der Buchwelt nutzt. Ravensburger Buchleute waren überall anzutreffen: auf den Buchmessen der Welt, in den Buchhandlungen des Landes, auf den Tagungen der Vermittler, im Austausch mit lesefördernden Lehrer-Organisationen, in den Büros der Kommunikatoren und natürlich an den Schreibtischen der Autoren und in den Ateliers der Illustratoren – jeweils beider Geschlechter, versteht sich.

Großherzige Gastfreundschaft

Im Verlag herrschte zu Christian Stotteles Zeiten eine zugewandte, persönlich offene Grundstimmung und zugleich eine emsige Arbeitsatmosphäre. Die klassischen Gegensätze zwischen zahlenorientiertem Pragmatismus und inhaltsgetriebener Programmatik wurden durch Prozesse moderiert, die man so charakterisieren könnte: "Bei uns ist Innovation Routine".

Christian Stottele war immer auch ein Familienmensch. Das Haus, in dem er mit seiner Frau Gisela das Aufwachsen ihrer vier Kinder begleitete, zeichnete sich durch großherzige Gastfreundschaft aus – für Freunde, Autoren, Illustratorinnen, Buchhändler und Verlagsmenschen. Diese Offenheit hat er die drei Jahrzehnte nach seinem Ausscheiden aus der Verlagsleitung weiterhin gepflegt. Das galt auch für seine zahlreichen Enkelkinder, die ihren zugewandten und aufgeschlossenen Großvater gern besuchten. Gisela Stottele (1930 - 2010) war an seiner Seite die prägende Macherin des Bilderbuch-Programms. Von Pappbilderbüchern eines Dick Bruna bis zu raffiniert ausgestatteten Werken einer Květa Pacovská holte sie weltbekannte Künstler ins Haus und förderte neue Talente. Für die Redaktionsmitarbeiter war es mitunter eher amüsant als befremdlich, wenn bei kontroversen Diskussionen über Programmfragen gegensätzliche Ansichten auch zwischen den Ehepartnern ausgesprochen wurden, die sich ja zugleich in einem Chef-Mitarbeiterin-Verhältnis befanden.

Steh- und Durchsetzungsvermögen

Friedbert Stohner hat Christian Stottele in einer Würdigung zu seinem 85. Geburtstag im "BuchMarkt" zutreffend als einen "Menschen mit Steh- und Durchsetzungsvermögen" geschildert, dessen Geheimnis aber nicht "schwere Geschmacks- und Meinungssäbel" waren, sondern "das Leise, gern auch Lächelnde, eine sanfte, leicht zu unterschätzende und deshalb umso wirksamere Insistenz". Er konnte ebenso großzügig wie detailversessen sein; aufbrausend erlebte man ihn fast nie, und wenn das doch einmal vorkam, warnte er die Kollegenschaft durch eine deutliche Rotfärbung seiner Wangen vor.

Christian Stottele war stets offen für junge Leute, gewährte ihnen Räume für neue Ideen, hatte immer ein Auge auf die gesellschaftliche Entwicklung, interessierte sich für Literatur, Kunst, Musik und insbesondere Film. Er hat viel für das Fundament des Gebäudes getan, das unsere heutige Kinder- und Jugendliteratur samt der Bilderbuchkunst beherbergt, und dafür gesorgt, dass mancher Baustein zu dessen Gestalt beitragen konnte. Er hat gelebt, was die Essenz des Verlegens ist: Büchern Chancen verschaffen.

Ulrich Störiko-Blume
hat von 1976 - 1985 als Redakteur der Ravensburger Taschenbücher gearbeitet. Nach leitenden Positionen in verschiedenen Kinder- und Jugendbuchverlagen (Ravensburger, Franz Schneider, arsEdition, C. Bertelsmann Jugendbuchverlag, Beltz & Gelberg, Boje, Hanser Kinder- und Jugendbuch) betreibt er seit 2015 die ProjektAgentur, die sich als Bindeglied zwischen dem Autor mit seinem Werk und dem Verlag versteht.