Neue Kindersachbücher

Blick auf andere Kulturen

19. September 2024
Renate Grubert

Weg vom eurozentristischen Weltbild: Verlage nähern sich so langsam auch anderen Zeiten und Kulturen an. Aufschlussreiche Bücher machen neugierig auf Geschichte.

Geschichte gehört nicht eben zu den Top-Inhalten im Sachbuch für Kinder und Jugendliche. Wer 1-a-Thematik anbietet, greift eher punktgenau zum alten Ägypten, zu Rom oder Griechenland. Und doch hat sich aktuell ein historischer Trend entwickelt, der Zeit und Vergangenheit frisch und abwechslungsreich in ungewöhnliche Rahmen bettet – befeuert durch den akzentuierten Drang zur Diversität und dem Blick über den Tellerrand, weg vom eurozentristischen Weltbild. Zu der Aus­einandersetzung mit kulturhistorischen Fragen passt es, dass die meisten dieser Titel international publiziert werden und als Lizenzen in den deutschen Sprachraum kommen. 

Einer, der ganz ohne Worte vom Gestern zum Heute führt, ist Aaron Becker, dessen Bildtafeln stilistisch ein wenig an François Place und seine »Phantastischen Reisen« erinnern. Becker zaubert im doppelseitigen Querformat nichts weniger als eine visionäre Menschheitsgeschichte. Mit zartem und doch klarem Strich, die Seiten in chamoisfarbener Tönung gehalten, folgt man filmszenisch dem Aufblühen und Wachsen einer Siedlung, sieht Industrialisierung, Technisierung, dann futuristische Elemente und schließlich ein Post-Katastrophen-Szenario. Danach: alles auf Anfang. Mit einer Eichel startet die Geschichte neu. Mit »Der Baum und der Fluss« ist Becker ein zeit- und altersloses Kunstwerk gelungen. 
 

Überraschungsmomente

Was ist spannender als ein Blick hinter Kulissen? »Ich zeige dir, wie es früher war« erfüllt diesen Wunsch. Mit seinen bunten, mal doppelseitig, mal als Vignetten angelegten Illustrationen bleiben die Zeichnungen nah an Bilderbuch-Kindern, zeigen, wie die Inka in der Schule Knotenschnüre knüpften, welche Haustiere es wo auf der Welt gab, wie man früher spielte, kochte, groß wurde. Und auch Kinderarbeit ist hier ein Thema. Beim Lesen oder Vorlesen der kurzen Legendentexte gibt es manches Aha-Erlebnis. Genau dieses Unerwartete zeichnet auch »Gute Nachrichten aus aller Welt« aus. Das große Format bietet Raum für eine Reise positiv-­nachdenklicher Art. Es geht von Kontinent zu Kontinent, immer auf der Suche nach Erstaunlichem und Wissenswertem, das so nicht in Schulbüchern steht. Zum Beispiel, dass Plastiktüten in Ruanda verboten sind oder dass Manute Bol, der mit 2,31 Meter größte NBA-Basketballspieler, aus dem Sudan kam. Wichtiger als die Details sind jedoch die mitgelieferten Denkanstöße: Was sind Ethnien, was ist Kultur, was Nationalität? Lesenswert die Antworten, attraktiv die stimmige Auf­machung samt Layout.
 

Panta rhei

Geschichte, in der Ausdehnung von Jahr­tausenden, ist schwer vorstellbar. Zwei Publikationen aus Israel beleben den ­abstrakten Begriff. Yuval Naoh Harari setzt sich im dritten Band seiner Geschichtsreihe mit einem Kernstück des Menschseins auseinander: Wie gehen wir miteinander um? Warum gibt es Krieg? Welche Rolle spielt Gott? Dabei führt »Wie aus Feinden Freunde werden« historisch von Uruk zu den Mongolen. Brillant ausformulierter Text, klarsichtige Kombinationen, großes Wissen – Harari ist ein Meister der Überzeugung, der sich perfekt auf Jugendliche zubewegt und die Lektüre zum Erlebnis macht. Der Band hält auch im Erscheinungsbild das hohe Niveau der Vorgänger. In »Kidsstory. Von der Steinzeit bis heute« überlässt Tamar Weiss Gabby Kindern selbst das Wort. Sie erzählen in 20 Etappen – lebhaft, anschaulich und zeichnerisch hübsch unterstützt – über 1,5 Millionen Jahre verteilt ihre Geschichten, immer im Verbund mit realer Historie. Denn: Es geht jeweils um etwas, das gerade neu entdeckt wurde. Mit dem afrikanischen Cover-Mädchen ohne Namen, das das erste Feuer in der Hand hält, startet der Leser. Nach David (England 1840) und Betty (New York City, Anfang 20. Jahrhundert) bleiben freie Seiten zum Eintragen eigener Geschichte(n). Prima ausgedacht und wirkungsvoll umgesetzt. 

Eigenständig anders

Mit leuchtenden Farben lockt das Cover von »Indigene Menschen aus Nordamerika erzählen«. Eine junge Piikani tanzt über die U1 – eines der ausdrucksstarken Fotos dieses anspruchsvollen Buchs. Hier kommen tatsächlich quer durch die USA und Kanada Ureinwohner zu Wort, führen in das zeitlose indigene Wissen der First Nations ein, das fast ohne Schriftdokumente auskommt. Sie berichten über alles, was ihr Leben auch heute noch bestimmt. »Life Statements« wechseln sich ab mit historischen und aktuellen Dokumenten; Karten mit Angaben zu den Stämmen helfen bei der Orientierung. Im Einklang mit der Natur leben die 22 Kinder, die das faszinierende Sachbuch »Origins, Indigene Kulturen der Welt« vorstellt. Ob Inuit, Sámi und Yanumani oder Anangu, Gitxsan und Bribri – auf jeder Doppelseite blickt ein Kind den Leser:innen direkt in die Augen, ernst und doch freundlich, zeichnerisch collagenartig mit charakteristischen Symbolen der Heimat ausgestattet. So spiegeln sich im Antlitz des Ewenken-Jungen karge Vegetation und Rentiere; beim typisch mit Perlen und Blumen geschmückten Masua-Mädchen Pagodengebäude und abgeschliffene Berge. Die farbenprächtigen Illustrationen werden von Textseiten ergänzt, die fremdes Brauchtum, Rituale, wenig bekannte Lebensart aufzeigen. Ein bemerkenswertes Buch, das unweigerlich zum Nachdenken und Vergleichen anregt.