Frankfurter Buchmesse

Auf der Suche nach Verständigung

22. Oktober 2024
von Nicola Bardola

Welche Auswirkung hat die von der Meloni-Regierung auf Schriftsteller:innen ausgeübte Mikro-Zensur und die darauffolgenden Gegenbewegungen auf den Gastland-Auftritt gehabt? Fest steht: Die Anzahl der Veranstaltungen war  ungeheuer groß und deren Initiatoren unterschiedlich motiviert:

Susanna Tamaro bei der Eröffnung des Gastland-Pavillons

Einerseits gab es das offizielle Programm, andererseits die nach dem Saviano-Vorfall kurzfristig angesetzten Auftritte und schließlich die von deutscher Seite organisierten Diskussionen. All dies zeigte die Lebendigkeit der italienischen Buchlandschaft, die manche vor der Buchmesse als gespalten wahrgenommen haben, die aber auf der Messe selbst immer wieder den Dialog und die Verständigung suchte. Dass weder das Literarische, die Spracharbeit selbst, noch das Politische und die Meinungsfreiheit in Frankfurt am Main zu kurz kamen, zeigte sich in vielen Podiumsgesprächen.

"Der Schriftsteller hat alle Wörter schon zur Verfügung"

"La bellezza delle parole" ("Die Schönheit der Worte") hieß die die allererste Veranstaltung auf der Piazza des Gastland-Pavillons am Messemittwoch um 10 Uhr, dabei waren Susanna Tamaro ("Geschichte einer großen Liebe", Harper Collins Deutschland) und Stefano Zecchi ("Phänomenologie in Italien", Königshausen & Neumann). Zecchi forderte, dass man bereits kleinen Kindern die Schönheit nahebringen müsse, nämlich durch das Aufzeigen von Unterschieden. Das Erkennen ästhetischer Werte und poetischer Sprache führe zu Respekt und Toleranz. Tamaro wies zunächst auf die Schönheit in der Natur hin und erinnerte an Jane Goodalls Beobachtungen von Schimpansen, die sich an einem Aussichtspunkt versammeln, um einen besonders farbenprächtigen Sonnenuntergang zu bewundern. Danach steigerte sich Tamaro in eine Wutrede gegen die Hässlichkeit heutiger Automodelle, gegen die aktuelle brutalistische Architektur, um schließlich in eine kämpferische Verteidigung der Schönheit der Worte zu münden: "Der Schriftsteller hat alle Wörter schon zur Verfügung. Er muss sie deshalb regenerieren. Ich vergleiche das mit dem Bildhauer, der aus dem Marmorblock mit jedem Hammerschlag seine Wunschform erschaffen will. Das ist schwierig für Schreibende, vor allem im Italienischen, dieser klangvollen Sprache mit den vielen schon so oft gesagten und verbrauchten Wörtern. Also musst du die Schönheit der Wörter regenerieren." Tamaro erläuterte ihr Verhältnis zum Wort "Herz", vor dem sie nach wie vor keine Angst habe, trotz der Kritik an ihrem Welterfolg "Geh, wohin dein Herz dich trägt". Mehrfach erhielt Tamaro spontanen Applaus, auch als sie sagte: "Schönheit ist eine Herausforderung. Aber ich bin eine Kriegerin: Ich habe 40 Jahre lang Kampfkunst studiert, und wenn ich ein Wort schreibe, dann ist das so, als würde ich mit der Faust zuschlagen."

From Word to Image: (v.l.) Luciano Cheles, Vera Gheno und Moderator Massimiliano Tarantino

Offenlegung faschistischen Gedankenguts

AIE-Präsident Innocenzo Cipolletta, der über erkennbar mehr Lizenzverkäufe als auch Rechteeinkäufe berichtete, hat im Gespräch auf Alessandro Baricco hingewiesen, der im Pavillon einen Vortrag unter dem Titel "Letteratura e impegno civile" ("Literatur und gesellschaftliches Engagement") gehalten hat. "Baricco hat plausibel dargestellt, dass es der Politik nie gelingen wird, sein eigenes literarisches Schreiben zu beeinflussen, gar zu zensieren", sagt Cipoletta.. "Die Literatur finde immer Wege, um sich der Macht zu entziehen."

Mit dem Messe-Slogan des Gastland-Auftritts "Radici nel futuro" ließ sich vielfältig spielen (Verwurzelt in der Gegenwart, Wurzeln schlagen in der Agora-Signierschlange, Axt an die Wurzel …) oder es ließ sich ernsthaft hinterfragen. Das geschah insbesondere im neuen "Zentrum Wort – Bühne für Literatur und Übersetzung" in Halle 4.1. Viel Beachtung fand die dortige Diskussion unter dem Titel "From Word to Image: The Languages of the New Right in Italy" ("Vom Wort zum Bild: Die Sprachen der neuen Rechten in Italien") diskutierten die italienische Linguistin Vera Gheno, die zurzeit an der Universität Florenz unterrichtet, und der Kunsthistoriker Luciano Cheles, derzeit Professor für Italianistik an der Universität von Poitiers. Cheles‘ 2023 bei Viella Libreria Editrice erschienenes Buch "Iconografia della destra: La propaganda figurativa da Almirante a Meloni", ("Ikonografie der Rechten: Die bildhafte Propaganda von Almirante bis Meloni") zeigt anhand zahlreicher Beispiele die Parallelen im faschistischen Sprach- und Bildgebrauch von vor rund 100 Jahren bis heute. Cheles begann seinen Beitrag mit einer Analyse des diesjährigen Gastland-Mottos, den Wurzeln und deren regen Ge- und Missbrauch durch die Faschisten. Ein Zitat des früheren Kulturministers Gennaro Sangiuliano ließ viele im Publikum zusammenzucken: "Der Begründer des rechten Gedankenguts in Italien war Dante Alighieri. Die Rechte hat Kultur. Sie muss sie nur bejahen", so Sangiuliano. Die Rede des aktuellen Kulturministers Alessandro Giuli bei der Eröffnung der diesjährigen Frankfurter Buchmesse wurde von der Zeitung "La Repubblica" als "kryptisch" bezeichnetn – Sätze wie "Posso dire che siamo qui per riaffermare la centralità di quel che si può chiamare pensiero solare" ("Ich darf sagen, dass wir hier sind, um den zur Sonne gehörenden Gedanken erneut zu beteuern"), werfen Fragen auf. Was meint Giuli mit einem "zur Sonne gehörenden Denken"? Vera Gheno versprach, Giulis Rede Wort für Wort zu analysieren und Rückgriffe auf faschistischen Sprachgebrauch zu offenbaren.

Loretta Santini (2.v.l.), Viktoria von Schirach (Mitte) und Silvia Meucci (2.v.r.)

Frauen in der Buchbranche

Kritisch setzten sich auch die Bücherfrauen in ihrer schon traditionellen Veranstaltung zum Gastland mit der Rolle der Frauen in der italienischen Verlagslandschaft auseinander. Independent-Verlegerin Loretta Santini berichtete über einen sehr hohen Frauenanteil in der Buchbranche; "90 % halten die Arbeit in den Verlagen aufrecht, und Frauen stellen auch den Löwenanteil der Leserschaft". "Die meiste Basisarbeit lastet auf den Schultern der Frauen, aber in den höheren Positionen ist die Verlagswelt fast ausschließlich männlich geprägt", bestätigte Scout Silvia Meucci. Bei den Autor:innen seien 40 % weiblich, es seien auch meist Frauen, die die Bücher verkauften, ergänzte Verlegerin Santini. "In der Belletristik verkaufen sich die Titel von Autorinnen sehr gut; im Sachbuch hingegen finden sich nur wenige Autorinnen." Aber welche Inhalte von Autorinnen verkauften sich denn?, warf Meucci ein: Fantasy, Frauenromane und Familiengeschichten. Die gesellschaftlich höher bewertete 'Hochliteratur' wird von Männern dominiert." Das setze sich in den Auszeichnungen fort, ergänte Santini: "Frauen bekommen weniger Literatiurpreise; den seit 68 Jahren existierenden großen Premio Strega haben bislang erst 15 Schriftstellerinnen erhalten. Aber langsam wird es besser, wir gehen in Richtung 50:50."

Viktoria von Schirach, die für eine große deutsche Verlagsgruppe in Italien scoutet, fällt auf, dass es in Deutschland viel mehr Frauen in Führungspositionen gibt, "in Italien lassen sie sich fast an einer Hand abzählen, Elisabetta Sgarbi etwa, Chefin des renommierten Verlags Bompiani und danch Gründerin des unabhängigen Verlags La Nave di Teseo, oder HraperCollins-Italia-Verlegerin Laura Donnini. Das Netzwerken unter Frauen sei in Italien nicht so verbreitet wie in Deutschland, bedauerte Silvia Meucci, aber in einzelnen Berufsgruppen unterstützten sie sich. Gerade Literaturagentinnen stünden sich untereinander nahe, gebe es doch durchaus sehr agressive Agenten – da seien Austausch und Bestärkung wichtig.

Die stets Abwesende ist auf der Messe dennoch präsent: Elena Ferrante

Keine Neuigkeiten von Ferrante

Auf sehr subtile Art und Weise engagiert sich die bekannteste und erfolgreichste Schriftstellerin Italiens in ihren Büchern und in Interviews politisch. Erwartungsgemäß war die sagenumwitterte Elena Ferrante in Frankfurt nicht anwesend. Ihre letzter Roman erschien 2020, bei Suhrkamp weiß man nicht, wann es ein neues Buch von ihr geben wird. An ihrem italienischen Verlagsstand Edizioni e/o heißt es, man müsse eben geduldig sein. Allerdings prangt dort ein Plakat: "The New York Times. The 100 Best Books of the 21st Century. # 1 Elena Ferrante". Andere Neuigkeiten gebe es leider nicht zu Ferrante. Man müsse eben geduldig sein, heißt es am Stand, und: Die Suche nach ihrer wahren Identität habe nachgelassen. Fest steht nur, dass die zeitweise wichtigste Ferrante-Kandidatin, die neapolitanische Historikerin Marcella Marmo, im Januar 2022 gestorben ist. Italien als Ehrengast der Frankfurter Buchmesse hat aber bewiesen, dass es auch ohne Ferrante-Phänomen sehr viele bedeutende und international erfolgreiche Bücher zu bieten hat. Die Anzahl und die Bandbreite an Wortmeldungen waren sehr groß. Die meisten Autor:innen und Verleger:innen aus Italien sind sich sicher, dass der Auftritt dafür gesorgt hat, dass Italien als Literaturland gerade in politisch schwierigen Zeiten noch aufmerksamer wahrgenommen wird.