Interview zum Jahreswechsel (10): Andreas Rötzer, Matthes & Seitz

"Unsere Branche lebt von leidenschaftlichen Menschen"

20. Dezember 2021
Michael Roesler-Graichen

2022 ist auch für Verleger Andreas Rötzer ein Jahr spannender Projekte, ob in der Literatur oder im Sachbuch – daran sollen weder Corona noch die steigenden Produktionskosten etwas ändern. Hohe Qualität und Leidenschaft bleiben die Parameter bei Matthes & Seitz und Friedenauer Presse.

Welches größere Projekt wollen Sie 2022 umsetzen?
Ein großes Projekt ist sicherlich die Herausgabe der Tagebücher von Ralph Waldo Emerson. Jürgen Brôcan hat dieses für die amerikanische Kultur und auch politische Geschichte äußerst wichtige Werk übersetzt und herausgegeben. Es erscheint in einem großen Band und ergänzt damit die auf zwölf Bände angesetzte Ausgabe der Tagebücher seines Schülers Henry David Thoreau, übersetzt von Rainer G. Schmidt. Der 5. Band von Thoreaus Tagebuch erscheint im Januar 2022. Zu nennen ist aber unbedingt auch die große Biografie Warlam Schalamows und die Herausgabe seiner Korrespondenz als 8. Band der Werkausgabe, die seit 2007 bei uns erscheint.

Wie wollen Sie dem allgemeinen Kostendruck, der die Buchbranche besonders belastet, begegnen?
Wichtig ist uns, nicht an der Qualität zu sparen, auch können und wollen wir den Kostendruck nicht an unsere Leser weitergeben. Noch genauere Auflagenplanung und Titelauswahl ist daher gefragt, allgemein ein guter Weg, um Ressourcen zu sparen.

Auf welcher literarischen Entdeckung im Frühjahrsprogramm ruht Ihre Hoffnung?
Eine schwere Frage, weil ich dann ehrlicherweise zwölf Titel nennen müsste. Wichtige übersetzte Titel aber werde in jedem Fall Emmanuel Carrères neuer, sehr nachdenklicher, intensiver, aber auch witziger Roman "Yoga", sein, auf den viele schon zurecht dringend warten, und Cristina Morales‘ "Einfache Sprache", ein aufregender Roman über eine etwas spezielle Frauen-WG, der viele Preise gewonnen hat und als wichtigstes spanisches Buch der letzten Jahre gilt. Wichtig in der deutschen Literatur ist eine wunderbare Entdeckung: Eva Raisigs Debütroman "Seltene Erde", in dem die Autorin die großen Themen unserer Zeit in einen fein gewebten und dramaturgisch gewitzten Roman bündelt. Und dann ist da noch Lola Randl zu nennen, die mit ihrem neuen Roman "Angsttier" auf genialische Weise das Genre des literarischen Horrors neu definiert - ein absoluter Lesespaß, der einem aber auch die Haare zu Berge stehen lässt.

Erwarten Sie, dass die Nachfrage nach Sachbüchern 2022 weiter steigt?
Sachbücher waren schon immer unser Schwerpunkt, und mit Titeln wie Heike Behrends "Menschwerdung eines Affen", Anna Tsings "Der Pilz am Ende der Welt", Byung-Chul Hans "Infokratie" oder den Büchern von Andreas Malm haben wir in den letzten Monaten sehr erfolgreiche Bücher veröffentlicht. Sie alle eint, dass sie in unserer unübersichtlich gewordenen Welt Orientierung anbieten, und neue Blicke auf die Gegenwart und auch unsere Geschichte ermöglichen. Das Bedürfnis danach ist gerade sehr hoch, verständlicherweise, die Welt ist in Unruhe wie selten, und das wird auch noch eine Weile so bleiben. Insofern erwarte ich tatsächlich anhaltende oder sogar steigende Nachfrage nach dem Sachbuch.

Die Welt ist in Unruhe wie selten, und das wird auch noch eine Weile so bleiben. Insofern erwarte ich tatsächlich anhaltende oder sogar steigende Nachfrage nach dem Sachbuch.

Wird der Programmschwerpunkt "Natur" bei Matthes & Seitz künftig noch mehr Gewicht bekommen?
Wir werden den Schwerpunkt selbstverständlich beibehalten und veröffentlichen in der Reihe Naturkunden im nächsten Frühjahr Bücher über Moose von Robin Wall Kimmerer, über Schönheit bei Tieren, über Hechte und Quallen. Neben der Backlistpflege in der Reihe, die inzwischen auf über 80 Titel angewachsen ist, veröffentlichen wir auch in unseren anderen Programmen Bücher über Natur: Ein wunderbarer und erstmals übersetzter Klassiker von John Fowles über Bäume erscheint in der Friedenauer Presse, und mit der Neuauflage von Jakob von Uexkülls "Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Menschen" machen wir einen enorm einflussreichen und heute noch aufregenden Sachbuchklassiker wieder zugänglich. Das Nachdenken über Natur tragen wir auch anderweitig in die Gesellschaft mit der Vergabe des Deutschen Preises für Nature Writing, der auch dieses Jahr wieder ausgeschrieben wird, und der Herausgabe der Halbjahresschrift "Dritte Natur".

Welche neue "Normalität" erwarten Sie nach Corona?
Krisen stärken das Starke und schwächen das Schwache, daher gehe ich davon aus, dass sich insgesamt Trends der Konzentration im Buchmarkt fortsetzen, aber das großartige Engagement der kleineren und unabhängigen Buchhandlungen während der letzten zwei Jahre und die Gründung neuer Verlage wie Kanon oder März zeigen, dass es auch anders geht. Unsere Branche lebt von einfallsreichen und leidenschaftlichen Menschen, und die wird es immer geben, daher bin ich ganz optimistisch, dass die neue Normalität so anders nicht sein wird wie die alte.

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