Essayistin und Reporterin

Marie-Luise Scherer ist tot

21. Dezember 2022
Redaktion Börsenblatt

Die Erzählerin und Reporterin Marie-Luise Scherer ist am 17. Dezember 2022 im Alter von 84 Jahren gestorben. Seit 2015 war sie Mitglied der Akademie der Künste.

Die Akademie der Künste trauert um ihr Mitglied Marie-Luise Scherer: Mit dem Schreiben begann Scherer als Lokalreporterin für den Kölner Stadtanzeiger und machte, obgleich sie kein Abitur hatte, mit ihrem prägnanten Stil rasch auf sich aufmerksam: So bot ihr Rudolf Augstein 1974 eine Anstellung beim Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ an. Für ihn schrieb die Autodidaktin bis 1998 regelmäßig Reportagen. Scherer war keine Vielschreiberin, aber mit ihrer Detailgenauigkeit und stilistischen Treffsicherheit entwickelte sie das journalistische Genre zu einer eigenen Kunstform, die ihr zahlreiche Meriten einbrachte. Gleich zweimal erhielt sie den Erwin-Egon-Kisch-Preis: für ihren schonungslosen Blick auf eine Alkoholikerin (1977) und auf die Familie eines jungen Fixers (1979).
1988 erschien eine Auswahl ihrer Texte als Buch unter dem Titel „Ungeheurer Alltag“ beim Rowohlt Verlag. Hans Magnus Enzensbergers nahm ihren als große Literatur gelobten Erzählband „Der Akkordeonspieler“ 2004 in seine Reihe „Die Andere Bibliothek“ auf. 2011 wurde Scherers Werk mit dem Heinrich-Mann-Preis für Essayistik ausgezeichnet.

Akademie-Mitglied Katja Lange-Müller würdigt Marie-Luise Scherer mit den Worten: „Marie-Luise Scherer selbst hätte sich in ihrer skrupulös-bescheidenen Art sicher eine Reporterin genannt, aber sie war natürlich eine große Schriftstellerin. Ihre legendäre Langsamkeit war die Voraussetzung für ihre außergewöhnlich genauen Texte von betörender stilistischer Eleganz, die dennoch niemals eitel oder gar elitär wirkten. Ihr waren Wirklichkeit und Wahrheit kongruent. Menschliche Schwäche interessierte sie ebenso wie deren Folgen für die schuldlos davon abhängig Gewordenen: Frauen, Tiere, Gegenden. Ihr gelang es, nicht über, sondern von den Verhältnissen zu schreiben, denen Lebewesen ausgesetzt sind. Was die deutsche Teilung war, zeigt sie in „Die Hundegrenze“ (2013) am Schicksal eines nach dem Mauerfall vom Dienst befreiten DDR-Grenzhundes. Und wenn jemand meint, er brauche, um Deutschland zu verstehen, einen ‚Wende-Roman‘, dann lese er diese Sechzig-Seiten-Geschichte von Marie-Luise Scherer.“