Vorlesen als Überforderung
Keine Bücher zu Hause, zu erschöpft, macht keinen Spaß: Die aktuelle Vorlesestudie der Stiftung Lesen hat ermittelt, warum rund 32 Prozent der Eltern in Deutschland ihren Kindern selten oder nie vorlesen.
Keine Bücher zu Hause, zu erschöpft, macht keinen Spaß: Die aktuelle Vorlesestudie der Stiftung Lesen hat ermittelt, warum rund 32 Prozent der Eltern in Deutschland ihren Kindern selten oder nie vorlesen.
Diese Zahl ist seit Jahren konstant. Um herauszubekommen, welche Gründe dahinterstecken, wurden bundesweit 528 Eltern mit ein- bis sechsjährigen Kindern befragt, die maximal einmal pro Woche vorlesen. Im Vergleich zum bundesweiten Durchschnitt wurden mehr Personen mit formal niedriger Bildung, mehr alleinerziehende Mütter und Väter sowie mehr Personen mit Migrationshintergrund befragt.
Dabei fänden es 57 % aller befragten Eltern gut, "wenn ihr Kind regelmäßig Bücher geschenkt bekäme, z. B. in der Kita, in der Schule, beim Kinderarzt, im Laden" und 42 % fänden es gut, "wenn es in jedem Supermarkt gute Kinderbücher und -spiele gäbe". 57 % der Eltern mit anderer Muttersprache fänden es gut, "wenn in Büchereien und Buchhandlungen immer auch Bücher und Filme in ihrer Muttersprache vorhanden wären". Jedoch vermissen nur wenige Eltern etwas, auch wenn sie eine andere Herkunftssprache sprechen. Für die meisten ist die Beschaffung von Büchern subjektiv kein Problem. Buchgeschenke, so zeigt die Vorlesestudie von Stiftung Lesen, "Die Zeit" und Deutsche Bahn Stiftung, erhöhen die Chancen, dass Eltern zumindest einmal pro Woche vorlesen. "Geschichten müssen zu den Familien kommen, egal ob als Buch oder digital", fordert Jürgen Kornmann, Leiter Marketing & PR der Deutschen Bahn AG und Beauftragter Leseförderung der Deutsche Bahn Stiftung. "Vorlesestoff sollte im Alltag überall verfügbar sein – attraktiv, unkompliziert, niedrigeschwellig und in möglichst vielen Sprachen. Das erhöht zudem die Wahrscheinlichkeit, dass die Eltern häufiger vorlesen."
Häufig fehlt es an Zeit und Bereitschaft zum Vorlesen. Die Hälfte der Eltern gibt an, dass es im Haushalt anderes zu tun gibt und sie zu erschöpft zum Vorlesen sind. Außerdem denken 48 Prozent der befragten Eltern, dass ihren Kindern woanders schon genug vorgelesen wird, vor allem in der Kita. "Vorlesen ist für viele der Befragten eine zusätzliche Belastung in ihrem Alltag", sagt Rainer Esser, Geschäftsführer der ZEIT Verlagsgruppe.
Viele Eltern sehen sich selbst gar nicht in der Rolle und Verantwortung für das Vorlesen. Dass gerade sie als Eltern wichtig sind, ist ihnen nicht bewusst. Für manche ist das Vorlesen an sich auch ein Problem:
Auf die Frage, warum es dann andere Eltern wichtig finden, lauten die Antworten, dass deren Kinder sonst nicht einschlafen oder sich nicht alleine beschäftigen könnten (je 53 %) oder weil jenen Eltern nichts einfalle, was sie mit ihren Kindern machen könnten (43 %).
Damit gehen sehr kritische Vorstellungen vom Vorlesen einher: Die Eltern glauben, schauspielern und ihre Kinder zum geduldigen Zuhören zwingen zu müssen.
"Viele der befragten Eltern stehen dem Vorlesen kritisch gegenüber – es macht ihnen keinen Spaß, weil sie sich der Aufgabe nicht gewachsen fühlen", sagt Jörg F. Maas, Hauptgeschäftsführer der Stiftung Lesen. "Die Hälfte hat in ihrer eigenen Kindheit zu Hause keine Vorleseerfahrungen gemacht. Ihnen fehlt das Vertrauen, dass Vorlesen jederzeit und überall ohne Übung möglich ist. Das wollen, das müssen wir ändern, denn es geht darum, dass alle Kinder diesen wichtigen Impuls in ihr Leben mitnehmen können."
Trotz aller Vorbehalte würde 50 % gerne mehr vorlesen, "aber irgendwie wird da nicht draus". Die Initiatoren der Studie weisen darauf hin, dass hier vor allem das negative Bild vom Vorlesen in ein positives geändert werden muss. "Deshalb müssen und wollen wir die Hemmschwellen abbauen und den Eltern zeigen, dass Vorlesen in jeder Familie möglich ist", meint Jörg F. Maas. "Wir wollen konkret zeigen, wie und was sie ihren Kindern vorlesen können; dass Vorlesen viel leichter ist als viele denken und allen – Eltern wie Kindern – eine Menge Spaß bereiten kann. Denn es geht um die Kinder und ihre Entwicklung. Also: Lesen Sie Kindern vor – regelmäßig, am besten jeden Tag!" Der Bundesweite Vorlesetag am 20. November wäre der nächste offizielle Anlass, den eigenen und anderen Kindern vorzulesen.
Für die Vorlesestudie, die seit 2007 jährlich durchgeführt wird, hat 2020 das Marktforschungsinstitut iconkids & youth im Mai und Juni 528 Eltern von Kindern im Alter von 1 - 6 Jahren (358 Mütter, 170 Väter) persönlich-mündlich befragt, die maximal einmal pro Woche vorlesen. Die Ergebnisse sind repräsentativ für die Gruppe der selten und nie vorlesenden Eltern bundesweit. Die Studie ist ein gemeinsames Projekt von Stiftung Lesen, DIE ZEIT und Deutsche Bahn Stiftung.