Iglu-Studie veröffentlicht

Die Bildungskatastrophe

16. Mai 2023
Redaktion Börsenblatt

Jeder vierte Viertklässler in Deutschland kann einer Studie zufolge nicht richtig lesen. Die Ergebnisse einer heute in Berlin vorgestellten Bildungsstudie sind im höchsten Maße alarmierend.

Ein Mädchen mit Handy und aufgeschlagenem Buch vor grünem Hintergrund

Alarmierende Leseschwächen

Wie aus der am Dienstag in Berlin vorgestellten internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung (Iglu) hervorgeht, erreichen 25 Prozent der Kinder in dieser Altersstufe nicht das Mindestniveau beim Textverständnis, das sie im weiteren Verlauf der Schulzeit brauchen. Bei der letzten Iglu-Erhebung, die Ende 2017 veröffentlicht wurde, lag der Anteil noch bei 19 Prozent.

Die Zahl der Schüler:innen mit großen Leseschwierigkeiten ist nach Einschätzung der Studienautoren inzwischen „alarmierend hoch“. Sie werden in ihrer weiteren Schullaufbahn „erhebliche Schwierigkeiten in fast allen Schulfächern haben“, sofern sie den Rückstand nicht aufholen könnten.

Dazu erklärt Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger: „Die IGLU-Studie zeigt, dass wir dringend eine bildungspolitische Trendwende benötigen, damit es mit den Leistungen unserer Kinder und Jugendlichen wieder bergauf geht. Gut lesen zu können, ist eine der wichtigsten Grundkompetenzen und das Fundament für Bildungserfolg. Es ist daher alarmierend, wenn ein Viertel unserer Viertklässlerinnen und Viertklässler beim Lesen als leistungsschwach gilt.“

Die Präsidentin der Kultusministerkonferenz, Katharina Günther-Wünsch, ergänzt: „Die Ergebnisse der IGLU-Studie sind ernüchternd. Die Corona-Pandemie und eine zunehmend heterogene Schülerschaft stellen die Lehrkräfte vor immer größere Herausforderungen. Das ist uns bewusst, und wir werden uns diesen Herausforderungen stellen. Die Kultusministerkonferenz hat bereits im Jahr 2020 einen besonderen Fokus auf die Grundschule gelegt, die Ständige Wissenschaftliche Kommission hat daraufhin ein entsprechendes Gutachten erstellt. Mit Bund-Länder-Initiativen wie zum Beispiel, Schule macht stark‘ und BiSS-Transfer wollen wir auch künftig die Förderung von Kindern mit Migrationsgeschichte und Kindern in sozialen Brennpunkten passgenau unterstützen. Die Ergebnisse der IGLU 2021-Studie zeigen einmal mehr, wie wichtig weitere intensive Maßnahmen sind.“

Die IGLU-Studie zeigt, dass wir dringend eine bildungspolitische Trendwende benötigen.

Bettina Stark-Watzinger

Die wichtigsten Ergebnisse im Überblick:

•    Die mittlere Lesekompetenz der Viertklässlerinnen und Viertklässler in Deutschland unterscheidet sich nicht signifikant vom Mittelwert der EU-Vergleichsgruppe oder der OECD-Vergleichsgruppe

•    Die Leseleistungen in Deutschland sind gegenüber der ersten Erhebung vor 20 Jahren (2001: 539 Punkte) und gegenüber der letzten Erhebung (2016: 537 Punkte) signifikant gesunken – ein trauriger europäischer Gesamttrend.

•    Der Anteil der im Lesen leistungsstarken Schülerinnen und Schüler (Kompetenzstufe V) ist in Deutschland leicht auf 8,3 Prozent gesunken (2016: 11,1 Prozent; 2001: 8,6 Prozent).

•    Die Heterogenität der Leseleistungen ist in Deutschland hoch. Sie hat in Deutschland seit 2001 zugenommen.

•    Die Schulschließungen während der Corona-Pandemie haben erhebliche Auswirkungen auf die Leseleistung gehabt. Die bei IGLU 2021 in Deutschland beobachtete Lesekompetenz ist signifikant niedriger als es ohne COVID-19-Pandemie bei Fortführung des Trends zu erwarten gewesen wäre.

Lehr- und Lernverhalten:

•    63 Prozent der Schülerinnen und Schüler lesen mindestens eine halbe Stunde täglich außerhalb der Schule. Dieser Anteil ist im internationalen Vergleich hoch (EU: 54 Prozent, OECD: 53 Prozent).

•    In der Schule wird in Deutschland zu wenig gelesen. Im Durchschnitt werden in Deutschland pro Woche 141 Minuten Unterrichtszeit für Leseunterricht und/oder Leseaktivitäten verwendet (OECD: 205 Minuten; EU: 194 Minuten).

•    Die Nutzungshäufigkeit digitaler Medien im Unterricht ist in Deutschland im internationalen Vergleich gering ausgeprägt.

•    Die geschlechtsspezifischen Unterschiede in den Lesekompetenzen zugunsten der Mädchen sind wieder auf dem Niveau von 2001.

•    Die sozialen Disparitäten in der Lesekompetenz sind seit 20 Jahren unverändert. Die Viertklässlerinnen und Viertklässler aus sozioökonomisch benachteiligten Familien weisen nach wie vor starke Kompetenzrückstände auf, die im internationalen Vergleich hoch sind.

•    Kinder, die zu Hause (fast) immer Deutsch sprechen, haben Kompetenzvorsprünge gegenüber Kindern, die zu Hause nur manchmal oder nie Deutsch sprechen. Der Kompetenzvorsprung ist in Deutschland stärker ausgeprägt als im EU- und OECD-Schnitt.

•    Viertklässlerinnen und Viertklässler in Deutschland benötigen für eine Gymnasialpräferenz ihrer Lehrerkräfte eine deutlich höhere Lesekompetenz, wenn ihre Eltern einer niedrigeren Berufsklasse angehören.

Wir brauchen endlich ein Sondervermögen Bildung! Jetzt. Wir können nicht mehr warten.

Kirsten Boie

Kritik von Kirsten Boie

Autorin Kirsten Boie, die sich seit Jahren für mehr Leseförderung stark macht, kommentierte auf Facebook: „Die Ergebnisse sind katastrophal, und, um es ganz knapp zusammenzufassen: Ein Viertel dieser Altersgruppe wird unserer Gesellschaft später leider nicht als Fachkräfte zur Verfügung stehen können, da 25% (!!!) der Kinder nicht den Mindeststandard im Lesen erreichen, der für die weitere Schullaufbahn notwendig wäre. (Darüber, was das für das weitere Leben dieser Kinder bedeutet, das Thema Bildungsgerechtigkeit, will ich gar nicht erst reden.)

Warum, um Himmels Willen, begreift niemand diesen Zusammenhang zwischen fehlender Lesekompetenz und Fachkräftemangel? Warum schreit nicht endlich die Wirtschaft auf, die doch immer über Fachkräftemangel klagt, und macht heftigste Lobbyarbeit für das Lesen? Wann endlich wird die Politik begreifen, dass es immer noch um ein Vielfaches günstiger wird, jetzt große (inzwischen sehr große, leider!) Mittel aufzuwenden für alles, was zur Förderung der Lesekompetenz notwendig ist (mehr Kita-Erzieher:innen! Sprachförderung vor der Schule! Kleinere Kita-Gruppen! Ausbildung von Grundschullehrerinnen! Kleinere Klassen! Fortbildung aller Grundschullehrkräfte zum Thema Lesen! Lese- und Sprachförderung auch noch in der Sekundarstufe! Und, und, und…), als später die Folgen zu tragen? (…)“

Boie machte auch darauf aufmerksam, dass die Folgen für die Demokratie gravierend seien – Populisten hätten in Zukunft wohl noch leichteres Spiel. Sie fordert:

„Wir brauchen endlich ein Sondervermögen Bildung! Jetzt. Wir können nicht mehr warten.“

Über die Iglu-Studie

IGLU wird alle fünf Jahre durch­ge­führt. Weltweit beteiligen sich am aktuellen Zyklus ca. 60 Staaten und Regionen an der Studie. In Deutsch­land nahmen an der Haupterhebung im Frühjahr 2021 etwa 8.900 Viertklässlerinnen und Viertklässler an ca. 400 Grund- und För­der­schu­len in allen 16 Bundesländern teil. 


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