Studie "Vorlesemonitor"

39 Prozent der Kinder wird selten oder nie vorgelesen

7. November 2022
Redaktion Börsenblatt

In 39 Prozent der Familien erhalten Ein- bis 8-Jährige nur wenige oder gar keine Impulse durch Vorlesen. Und: Je mehr Bücher im Haushalt, desto mehr Eltern lesen regelmäßig vor. Das sind zwei Ergebnisse aus dem aktuellen Vorlesemonitor 2022 - aber auch die weiteren Erkenntnisse haben es in sich.

Einbruch der Vorleseaktivitäten nach Schuleintritt

Betrachtet man die Zielgruppe der 2- bis 8-Jährigen, gibt es beträchtliche Veränderungen: Haben 2019 nur 32 Prozent der Eltern selten oder nie vorgelesen, sind es 2022 schon 40 Prozent. Dagegen ist der Anteil der regelmäßig vorlesenden Eltern von 68 auf nunmehr 60 Prozent zurückgegangen. Mit der Einschulung gehen die Vorleseaktivitäten rapide zurück:  22 Prozent der Eltern von 6-Jährigen lesen nie mehr vor,  beui den Eltern von 7-Jährigen sind es schon 34 Prozent und bei den Eltern von 8-Jährigen gar 51 Prozent. Hinter dem Durchschnittswert steckt laut Studie eine klar konturierte "Vorlesebiografie": Viele Eltern fangen erst vergleichsweise spät an – mit oder nach dem 2. Geburtstag der Kinder. Zwischen drei und fünf Jahren wird den meisten Kindern zu Hause vorgelesen. Spätestens mit Eintritt in die Schule bricht das Vorleseverhalten der Eltern aber massiv ein, deutlich stärker als noch 2019. "Man kann davon ausgehen, dass vor allem der Einbruch mit Schulbeginn für viele Kinder zu Frustration führt und ihre Lesemotivation massiv hemmt, weil ein gleitender Übergang fehlt", so eine weitere Erkenntnis der Untersuchung.

44 Prozent haben maximal 10 Kinderbücher

Bezüglich des Geschlechts der Kinder gibt es keine großen Unterschiede, nur bei dem Anteil derjenigen, denen nie vorgelesen wird: Hier bekommen 23 Prozent der Jungs nie vorgelesen, bei den Mädchen sind es 17 Prozent. Bei den Müttern und Vätern bzw. ihren Partner:innen mit formal geringer Bildung lesen der Studie zufolge 31 Prozent nie vor, bei den Eltern mit formal mittlerer Bildung sind es 15 Prozent und bei denen mit formal höherer Bildung 18 Prozent. Die untersuchung zeigt, dass die eigene Vorleseerfahrung auch bei formal gering gebildeten Eltern die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass sie selbst vorlesen. Von Eltern, denen als Kind selbst nicht vorgelesen wurde, lesen 87 Prozent auch nicht vor.

Von den Befragten haben 56 Prozent mehr als 10 Kinderbücher, 44 Prozent haben maximal 10 Kinderbücher. Die Zahl ist dabei abhängig von der Familiengröße und der formalen Bildung der Eltern. Und: Je mehr Bücher im Haushalt, desto mehr Eltern lesen regelmäßig vor. Untersucht wurden auch die Aktivitäten auf Smartphone und Tablet, die Kinder ohne oder mit seltener Vorleseerfahrung häufiger machen als Kinder mit regelmäßiger Vorleseerfahrung.

Die jährliche Vorlesestudie von "Zeit", Stiftung Lesen und Deutsche Bahn Stiftung ist in diesem Jahr mit neuem Studiendesign als "Vorlesemonitor" erschienen, zu dem mehr als 800 Eltern zu ihrem Vorleseverhalten befragt wurden. Als einen Grund dafür, dass 39 Prozent der 1- bis 8-jährigen Kinder selten oder nie vorgelesen wird, sieht die Studie die Verfügbarkeit von Vorlesestoff: "Denn je mehr Kinderbücher im Haushalt vorhanden sind, desto regelmäßiger lesen Eltern ihren Kindern vor und geben frühe Impulse fürs (Vor-)Lesen weiter." Die Studienergebnisse zeigten deutlich, dass die bisherigen Fördermaßnahmen nicht ausreichten, meint Rainer Esser, Geschäftsführer der Zeit-Verlagsgruppe. "Nur eine verbesserte Verfügbarkeit von Büchern und digitalen Vorlesematerialien kann dazu beitragen, dass Vorlesen und Lesen in mehr Familien stattfindet."

Die Studie bestätigt zudem, was auch andere Studien schon seit langem sagen: Die Bildungsvoraussetzungen der Eltern haben Einfluss darauf, wie oft Kindern vorgelesen wird. Denn mehr als die Hälfte der Eltern mit formal geringer Bildung lesen ihren Kindern selten oder nie vor – die Kinder sind damit häufig bereits vor Schuleintritt benachteiligt. "Um die Abwärtsspirale der immer stärker abnehmenden Vorleseaktivitäten in Familien mit formal geringer Bildung der Eltern zu stoppen, müssen wir noch gezieltere Unterstützung leisten. Schaffen wir hier die Trendumkehr, verbessern wir nachhaltig die Chancen der nächsten und übernächsten Generationen", meint Jürgen Kornmann, Leiter Marketing & PR der Deutschen Bahn und Beauftragter Leseförderung der Deutsche Bahn Stiftung. "Denn Kinder, denen regelmäßig vorgelesen wurde, lesen auch mit signifikant höherer Wahrscheinlichkeit den eigenen Kindern vor."

Es sei wichtig, Eltern im Vorlesen zu bestärken und auch den Vorlesebegriff breiter zu fassen – so zum Beispiel durch Erzählen und Betrachten von Bildern bereits ab dem 1. Lebensjahr, appelliert Jörg F. Maas, Hauptgeschäftsführer der Stiftung Lesen: "Vorlesen eröffnet Kindern die Welt der Geschichten und legt wie keine andere Aktivität den Grundstein für Bildung und Zukunftschancen. Deswegen muss die Bedeutung des Vorlesens in der Gesellschaft wachsen und mehr Aufmerksamkeit und Unterstützung erhalten." Jens Brandenburg, Parlamentarischer Staatssekretär bei der Bundesministerin für Bildung und Forschung, hob bei der Präsentation der Studie am 7. November  in Berlin hervor,  dass Vorlesen ein überaus wichtiges Element früher Bildungsförderung sei: "Es leistet einen elementaren Beitrag dazu, dass Kinder ihre Bildungschancen voll ausschöpfen können. Regelmäßiges Vorlesen ist nicht nur förderlich für die späteren Sprach- und Lesekompetenzen, sondern auch für die Fantasie und stärkt zudem die Eltern-Kind-Beziehung."

Die Ergebnisse der Studie sind nachzulesen unter stiftunglesen.de