Leipziger Buchmesse

„Wir sind das Volk!“

26. März 2024
Nils Kahlefendt

Politische Buchmesse, revisited: Die anstehenden Wahlen, der Krieg in der Ukraine und das unfassbare Leid im Nahen Osten sorgen für ordentlich Druck im Kessel. Aber es gibt auch kluge und besonnene Wortmeldungen, die Mut machen. Ein Rundgang.  

Die Rotorbooks Verlagsbuchhandlung. Im Schaufenster: Das Plakat "Bücher, die wissen, wo sie stehen" von Verlage gegen Rechts. 

In seiner „Leipziger Rede“ zu 35 Jahren Friedliche Revolution und 35 Jahren Grundgesetz hatte Bundespräsident Steinmeier auch über die Kraft der Literatur gesprochen. Mit Blick auf den einst in Leipzig lehrenden Romanisten Werner Krauss, der Literatur als die „Innenseite der Weltgeschichte“ bezeichnete, sprach Steinmeier von einer ganz besonderen Fähigkeit literarischer Texte: Sie können Widersprüche aufzeigen, ohne sie auflösen zu müssen. Genau darin liege die Stärke einer neuen Generation ostdeutscher Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die zu Zeiten des Mauerfalls Kinder oder noch gar nicht geboren waren – Anne Rabe, Manja Präkels, Lukas Rietzschel, oder Matthias Jügler nennt Steinmeier stellvertretend. Wiedersprüche aufzeigen, ohne sie auflösen zu müssen – das soll auch der Kompass unseres Spaziergangs über die zweifellos politisch hoch aufgeladene Buchmesse sein.   

Nur Headliner

Während man mittags auf Festivals üblicherweise Bands sieht, deren Namen man noch nie gehört hat, fangen sie bei Lesen für die Demokratie im Deutschen Literaturinstitut Leipzig (DLL) gleich mit Headlinern an – und bleiben den restlichen Tag auf diesem Niveau. Es ist 13 Uhr, fast noch high noon, und auf der Bühne in der Wächterstraße moderiert Cornelius Pollmer von der „Süddeutschen“ gerade Charlotte Gneuß an, deren Debütroman Gittersee im letzten Jahr unter anderem den „aspekte“-Literaturpreis abräumte und eine veritable Feuilleton-Keilerei darüber auslöste, wer über den Osten schreiben darf und wer nicht. Gneuß macht den Auftakt für einen 12-Stunden-Spendenmarathon, nach ihr sind noch mehr als 20 andere Autorinnen und autoren zu erleben, von Lene Albrecht, Matthias Jügler und Paula Fürstenberg bis Sophia Fritz oder Dilek Güngör. Zu erleben sind die literarischen Neuerscheinungen des Frühjahrs, dazu gibt’s Melonen-Bowle. Der Eintritt ist frei, aber alle gesammelten Spenden gehen – über den Leipziger Förderverein Land in Sicht e. V. an Projekte in ländlichen Regionen Sachsens, die sich mit ihrer kulturellen und sozialen Arbeit für Weltoffenheit und ein demokratisches Miteinander engagieren. Die Initiative kam von der in Leipzig lebenden Autorin Verena Keßler (*1988), die auch am DLL studiert hat und 2020 mit Die Gespenster von Demmin ein viel beachtetes Debüt hingelegt hat. Sechs Wochen vor der Buchmesse entschloss man sich, die Lesung zu organisieren. „Bücher können die Welt nicht verändern“, sagt Keßler, auf den Veranstaltungstitel angesprochen. „Aber sie können gesellschaftliche Themen aufgreifen, kommentieren. Die Texte stehen dann für sich.“

Katrin Lautenschläger und Verena Keßler, die Organisatiorinnen der Lesung. 

Lechts & Rinks

Angesicht der in vielen Buchmesse-Reden fast gebetsmühlenartig beschworenen emanzipatorischen Kraft des Lesens und der Spezial-Kraft der Bücher, die an sich schon mit der liberalen Demokratie im Bunde seien, empfiehlt sich eine höchst lesenswerte Recherche von Lothar Müller zum Literaturbetrieb der Neuen Rechten, in der SZ hinter der Bezahlschranke zu finden. Fazit: Auch die „nationale Opposition“ ist eine Lesegesellschaft, mit Verlagen, Büchern und eigenen ‚Literarischen Quartetten’ auf Youtube. Im Vorfeld der diesjährigen Buchmesse gab es kaum Aufregung, weder Verlage wie Antaios hatten sich angemeldet noch die „Junge Freiheit“ oder „Compact“. Der Ahriman Verlag (Freiburg/Br.) war mit seiner Autorin Kerstin Steinberg („Denkverbot Geburtenkontrolle“) in Leipzig und schaltete dafür im linken Stadtmagazin Kreuzer die einzige ganzseitige Buchverlagsanzeige. Die im Vorfeld der Buchmesse kurz hochgekochte Erregung um den Auftritt von Philipp Burger, Frontmann der Südtiroler Band „Freiwild“ im Rahmen der von MDR, ZDF, 3sat und Buchmesse organisierten LitPop endete als Sturm im Wasserglas – Burger durfte im Forum Sachbuch aus seinem Buch „Freiheit mit Narben“ (Kampenwand) vorlesen. Während sich also die jungen Männer am Stand des 2020 in Wien gegründeten Castrum Verlags (der Name ist angelegt an die in der Nachfolge Stefan Georges publizierte Zeitschrift „Castrum Peregrini“) in feinem Zwirn und Hipsterbärten optisch kaum von ihren Indie-Nachbarn in Halle 5 unterschieden, hatte die Buchmesse heuer, zur Abwechslung, ein kleines Problem mit linken Verlagen.

Marx lebt

Davon berichtet Martin Beck, Chef des Karl Dietz Verlags (Berlin). Das gern als „Marx- Verlag“ bezeichnete Haus gibt die blauen Bände der Marx-Engels-Werke (MEW) heraus; am Stand sind sogar, in originalem Packpapier eingeschlagen, letzte DDR-Exemplare aus alten LKG-Lagerbeständen erhältlich. Die Buchmesse hatte Dietz und anderen linken Verlagen seit 2012 eine kostenlose Fläche zur Verfügung gestellt, auf der diese, unterstützt von der Rosa-Luxemburg-Stiftung, eine Bühne linker Verlage betrieben. Noch im letzten Jahr sorgten 15 Verlage messetäglich für Programm, rund 40 Veranstaltungen im Halbstunden-Rhythmus. Nachdem sich dieses Jahr wieder mehr als zehn Verlage der Gruppe zu Frühbucher-Konditionen angemeldet hatten, setzte auf Messeseite Funkstille ein. Auch ein weiteres Schreiben der linken Verleger an die Messeleitung blieb unbeantwortet.     

Martin Beck, Verleger des Karl Dietz Verlags.

Die Sprache bringt es an den Tag

Stephan Anpalagan ist der „Lieblingscousin an der Familientafel Deutschland“, das hat Micky Beisenherz mal gesagt, aber wenn er – klug und rhetorisch brillant – mit ein, zwei druckreif formulierten Sätzen den Kern eines Problems freilegt, kann man auch auf einem lärmumtosten Buchmesse-Forum die berühmte Stecknadel zu Boden fallen hören. Stephan Anpalagan, 1984 in Sri Lanka geboren, aufgewachsen in Wuppertal, ist Geschäftsführer einer Gemeinnützigen Strategieberatung, Lehrbeauftragter an einer Polizeihochschule in NRW, Podcaster und Autor, heimste womöglich die Hälfte der Redezeit auf einem rappelvollen, vom PEN Berlin organisierten Podium am Buchmesse-Sonntag ein, das mit der „aspekte“-Literaturpreisgewinnerin Miku Sophie Kühmel und dem Autor Max Annas eh schon gut besetzt war. Die von Sophie Sumburane moderierte Runde Wie Rechte reden ging vor dem Hintergrund der anstehenden Landtagswahlen im Osten der Frage nach, wie Sprache Radikalisierung beeinflusst – und was andererseits Sprache und Literatur im Kampf gegen Rechtsextremismus tun können. In einer etymologischen Tour de Force erinnerte Anpalagan daran, dass es die Mitte der Gesellschaft und etablierte Medien waren, die von „Döner-Morden“ sprachen und schon bald nach der Selbst-Enttarnung der „Zwickauer Terrorzelle“ um Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe deren Selbstbezeichnung „NSU“ übernahmen. Das Spiel vieler AfD-Politiker, verbal zuzuspitzen und dann rhetorisch zurückzurudern, wird auch anderswo gespielt: Mit dem Slogan „Kinder statt Inder“ konnte man in NRW Ministerpräsident werden, beim Wahlkampfschlager doppelte Staatsbürgerschaft wurde auf hessischen Marktplätzen schon mal gefragt, wo man „gegen Ausländer unterschreiben“ könne. Für den Rheinländer Anpalagan, dem nach der Veranstaltung ein älteres Ehepaar für seine Klarheit gratuliert („Wir kennen auch einen Inder“), geht es schlicht darum, ob wir mit „Yes, we can!“ oder „Wir müssen in großem Stil abschieben“ in die Geschichtsbücher eingehen. Miku Sophie Kühmel, 1992 im thüringischen Gotha geboren (am Familientisch ist von „unserem West-Baby“ die Rede), arbeitet gerade an ihrem dritten Roman, der vor 100 Jahren spielt. Bei den Recherchen stieß sie auch auf die erste Amtshandlung des ersten NSDAP-Bürgermeisters in der Bauhaus-Stadt Dessau: „Er ließ die durchgängige Kleinschreibung verbieten.“

Das PEN Podium.