Durch Corona sind neue digitale Angebote aufgekommen, die von vielen Menschen auch wahrgenommen werden, vom Sportkurs bis zur Clubnacht. Erlebt die Onlinevariante der Lesekreise ebenfalls einen solchen Zulauf?
Man muss da unterscheiden zwischen ursprünglich physischen Lesekreisen, die nun eine Möglichkeit suchen, sich digital auszutauschen, und den Online-Lesekreisen, die es schon vor Corona gab. Ich selbst habe vor drei Jahren einen Leseclub auf Facebook gegründet. Ich wollte sehen, ob auf anspruchsvoller Ebene online ein Gespräch aufkommt. Das Angebot wurde ziemlich gut angenommen. Aktiv diskutieren rund 50 Personen mit, es lesen aber sehr viel mehr die Bücher. Und ja, in den letzten Wochen ist die Anzahl der Menschen, die in die Gruppe aufgenommen werden wollen, gestiegen - vor allem sind die Leute aktiver in der Diskussion. Der Vorteil ist, dass man vorher entscheiden kann, ob einen der Titel interessiert, und dass man eine eigene Zeit dafür definieren kann, zu der man mitmachen möchte. Eigentlich lesen wir ein Buch pro Monat. Im Mai wurden aber erstmals zwei Bücher diskutiert: "Deine Juliet" von Mary Ann Shaffer und Annie Barrows und "Die Pest" von Camus. Einerseits weil die Nachfrage so groß ist, andererseits, weil einige ein Buch passend zur Situation wollten, wohl auch als Vehikel, andere aber etwas Positives zur Ablenkung suchten.
Sie sprechen auf Ihrer Website mein-literaturkreis.de von 70.000 (physischen) Literaturkreisen im deutschsprachigen Raum. Wie kommen Sie auf diese hohe Zahl?
Es existieren leider keine verlässlichen Zahlen, weil es in Deutschland, anders als in den USA oder Großbritannien, kaum Forschung zu diesem Thema gibt. Studien besagen, dass in den USA 500.000 Lesekreise, in Großbritannien 50.000 bis 60.000 Lesekreise existieren, jeweils mit einem Durchschnitt von zehn Teilnehmern. Für meine Schätzung habe ich verschiedene Quellen verwendet, etwa online gesucht – öffentliche Lesekreise, die zum Beispiel in Kirchen oder von der VHS organisiert werden, findet man leicht – und Befragungen gemacht. Außerdem sind etwa zwei Drittel privat organisiert. Diese Zahlen habe ich hochgerechnet. Dazu eine Anekdote: Ich wohne in Bad Honnef, einer Stadt mit 25.000 Einwohnern – und kenne allein hier 20 Gruppen, die sich regelmäßig treffen.