"Wie wollen wir leben?" (11)

Vorsicht bei Pathos

2. Februar 2021
Redaktion Börsenblatt

Nach den Erfahrungen der vergangenen Monate ist die Frage "Wie wollen wir leben?" drängender denn je. Welche Denkanstöße dazu in Frühjahrsnovitäten zu finden sind, zeigen wir in einer Folge, die auch Anregung für einen Büchertisch sein kann. Der heutige Impuls kommt von der mehrfach ausgezeichneten Journalistin Solmaz Khorsand, die derzeit beim Schweizer Magazin "Republik" arbeitet (Kremayr & Scheriau).

Der folgende Textauszug stammt aus Solmaz Khorsands Buch "Pathos", das am 22. Februar bei Kremayr & Scheriau erscheint.

"Pathos ist überall. Permanent sind wir bewegt, empört und berührt von der Welt und wollen das auch mit allen teilen. Am liebsten sofort. Am liebsten mit ganz viel Reichweite.

Mäßigung gehört nicht zum Zeitgeist. Insbesondere wenn es um die eigene Befindlichkeit geht. Wer von sich selbst dermaßen berauscht ist, will auch die anderen daran teilhaben lassen. Beherrschung ist etwas für Asketen. Gelassenheit für Reiche. Ironie für Überlebende.

Dem Rest bleibt nur das Pathos. Mit bebendem Tremolo und zeternder Stimme, absurden Metaphern und Stakkato-Interpunktion muss das eigene Drama möglichst breitenwirksam zur Geltung kommen. Schließlich ist alles auch eine Frage der richtigen Inszenierung. Denn wer sich im Pathoskonzert behaupten will, muss eine Performance an den Tag legen, die sich analog und vor allem digital dermaßen abhebt, dass sie tatsächlich gehört, gesehen, gespürt und vor allem angeklickt wird.

Pathos bedeutet Macht. Erst wenn die eigene Bewegtheit andere bewegt, kommen die Dinge ins Rollen. Erst dann werden vermeintliche Werte und Normen plötzlich in Frage gestellt. Mit einem Mal interessiert sich die Öffentlichkeit für die Erforschung einer Krankheit, für die es davor keine Gelder gab. Plötzlich werden Gesetze verabschiedet, die davor nur eine Minderheit betroffen haben. Plötzlich werden Statuen von der Straße ins Museum verbannt, weil sie nun für die Allgemeinheit eine dunkle Ära repräsentieren, nicht nur für ein paar Übersensible.

Pathos bedeutet Veränderung. Kann Veränderung bedeuten. Denn sein Einsatz spiegelt die herrschenden Machtverhältnisse wider. Wer traut sich öffentlich seiner Befindlichkeit zu frönen, wer bekommt den Raum dafür zugestanden und wer nicht? Wer wird dabei ernst genommen und wer pathologisiert?

Macht es einen Unterschied, ob eine Frau ihre Gefühlswelt mit der Welt teilt oder ein Mann? Eine Schwarze oder eine weiße Frau? Eine Schwarze oder weiße Frau, die obdachlos ist, die im Rollstuhl sitzt, die Alleinerzieherin ist?

Ja, ja und ja. Es macht einen Unterschied. Den einen wird für ihren Mut gratuliert, sie werden für ihre Sensibilität gefeiert, dafür, dass sie bereit waren, dermaßen intime Einblicke in ihre Realität, ihren Alltag, ihre Verletzlichkeit zu gewähren. Die anderen sollen bloß nicht pathetisch sein, so viel jammern und immer nur fordern. Bei den einen wird ihr Pathos übersetzt in Gesetzesinitiativen und schafft es auf die politische Agenda, in den medialen Diskurs. Bei den anderen reicht es höchstens für eine Gegenforderung: Resilient soll man ein bisschen sein. Ist doch alles nicht so schlimm, oder?"