"Wie wollen wir leben?" (10)

"Sich in andere hineinversetzen"

1. Februar 2021
Redaktion Börsenblatt

Nach den Erfahrungen der vergangenen Monate ist die Frage "Wie wollen wir leben?" drängender denn je. Welche Denkanstöße dazu in Frühjahrsnovitäten zu finden sind, zeigen wir in einer Folge, die auch Anregung für einen Büchertisch sein kann. Die heutige Antwort kommt von Politikwissenschaftlerin Gesine Schwan, die bis 2008 Präsidentin der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder war (Dietz Verlag).

Der folgende Textauszug stammt aus Gesine Schwans Buch "Pandemie und Solidariät", das am 15. Februar im Dietz Verlag erscheint.

"Ämter und Bürokratie haben häufig eine sehr hierarchische Struktur. Sie müssen bestimmte Dinge erledigen, sie bekommen bestimmte Aufgaben, darüber kann man nicht lange debattieren. Es entsteht ein Gefüge auf den Ämtern, in dem man Fälle hat, die nach Vorgaben gelöst werden sollen.

Wenn Menschen dann nicht richtig in die Kategorie der Fälle passen, muss man sie passgerecht machen. Das gefällt aber den Menschen nicht, die da passgerecht gemacht werden sollen und deswegen gibt es dann Missverständnisse. Denn diejenigen, die in den Ämtern ja auch durchaus positive Ziele haben, fühlen sich ihrerseits oft nicht anerkannt.

Um diese Kommunikation zu verbessern, würde ich bei der Weiterbildung, zum Beispiel beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Rollenspiele einführen. Mal spiele ich einen Flüchtling und mal der andere. Solche Rollenspiele sind unglaublich hilfreich, weil man eine andere Perspektive einnehmen muss. Wir haben in dem Bereich noch viel vor uns und müssen insgesamt noch viel lernen.

Da komme ich immer auf eine Devise von Immanuel Kant zurück. In seiner Kritik der Urteilskraft hat er drei Maximen für den Gemeinsinn aufgestellt. Diese drei Maximen sind Selbstdenken, an der Stelle jedes anderen denken, also sich in andere hineinzuversetzen und jederzeit mit sich einstimmig zu denken, also nicht so zu tun, als hätte man vergessen, was man vorgestern gesagt hat.

Sich an die Stelle des anderen zu versetzen ist bei Kant nicht emotional, nicht empathisch gemeint, sondern als vernünftiger Vorgang. Trotzdem setzt es eine gewisse Vorstellungskraft voraus, sich die Situation des anderen vorzustellen und nicht an sich abrieseln zulassen. Das ist eine Fähigkeit, die wir dringend brauchen, um zu begreifen, warum andere so reagieren, wie sie es tun. Übrigens finde ich das auch im Bildungssystem ganz zentral, denn weltweit kommen wir nur dann aus der Krise, wenn wir lernen, uns gegenseitig zu verstehen und uns in andere hinein zu versetzen.

Der Begriff der sozialen Kompetenz ist zwar etwas abgegriffen, aber sich auf andere einzulassen, sie zu verstehen, ihre Perspektive nachzuvollziehen, das ist eine Kompetenz, die ich für sehr wichtig halte."