Hörbuchperlen

Sechs Hörbuchtipps vom Experten

9. November 2022
Redaktion Börsenblatt

Kämpfe, Krisen, Kränkungen – der Hörbuchexperte Wolfgang Schneider stellt sechs wichtige aktuelle Produktionen vor, die menschliche Abgründe ausloten und zugleich ästhetischen Genuss bieten. Die Hörproben bieten einen ersten Einblick in die Werke. 

Dass das Wandern des Müllers Lust sei, behauptet eines der bekanntesten deutschen Gedichte. Es ist der Auftakt von Wilhelm Müllers Liederzyklus »Die schöne Müllerin«, kongenial vertont von Franz Schubert. Bei aller Wandersburschenromantik erweist sich der unbehauste Müllergeselle allerdings als prekäre Gestalt. Er ringt – vergeblich – um Anerkennung und soziale Stellung. Und seine Liebe zur schönen Müllerin bleibt trotz kurzfristigen Überschwangs unerfüllt. Depression und Todessehnsucht stehen am Ende.

Der Künstler und Hörspielmacher Stefan Weiller hat nun eine Adaption der »Schönen Müllerin« geschaffen, in der die dunklen, melancholischen Motive der Lieder zu heutigen Schicksalsgeschichten ausformuliert werden (Speak Low, 107 Min, 18 Euro). Weiller hat Frauen und Männer in schweren Lebenskrisen interviewt und sich viele Geschichten von psychischer und körperlicher Gewalt angehört, von Tod und Todeswünschen, bitteren Erfahrungen der Krankheit, Sucht, Ausgrenzung und unrettbarer Verlassenheit. Er hat sie verdichtet zu 15 lakonisch berichtenden Texten, die von den Schauspielern Birgitta Assheuer, Jens Harzer und Dagmar Manzel so eindringlich gelesen werden, dass sie alles Sozial­reporthafte verlieren und eine literarische Qualität gewinnen, die sich noch einmal intensiviert durch die collagenartige Einbindung der Gedichte Wilhelm Müllers. Die expressive Musik Schuberts ist in den Bearbeitungen des Pianisten Hadayet Djeddikar ein essenzieller Teil des Hörspiels. 

Stabreimendes Starkdeutsch

Auch Richard Wagners Zyklus »Der Ring des Nibelungen« gibt es jetzt in einer vierteiligen Hörspiel-Bearbeitung unter der Regie Regine Ahrems (»Rheingold« / »Walküre« / »Siegfried« / »Götterdämmerung«, DAV, je ca. 75 Min., je 16 Euro). Gott Wotan wird gesprochen von Bernard Schütz; zwischen ihm und seiner Frau Fricka (Martina Gedeck) tobt ewig der Geschlechterkampf. Sie: die Göttin der Ehe. Er: ein notorischer Fremdgeher. Das ist toller Hörspielstoff, auch ohne die opulente Musik, die nur in einigen Leitmotiven zitiert wird.

Im mythischen Ringen von Göttern und Helden, Zwergen und Riesen ist hier eine komplexe Gesellschaftsanalyse zu entdecken, eine Welt der erbitterten Klassenkämpfe, Machtspiele und unseligen Handlungszwänge. Habgier, Neid und Kränkung treiben das Geschehen an. Wagners stabreimendes Starkdeutsch ist einprägsam, bisweilen auch klamaukhaftkomisch. Die Kunstkopf-Effekte haben Kino-Surround-Qualität. Das große Pathos und die raffinierten Zwischentöne des 16-stündigen Originals mag man vermissen, dennoch sind es hochklassig produzierte, mit hervorragenden Sprechern besetzte Hörspiele, die auch bisher Wagnerscheue gut heranführen an den komplexen Kosmos des »Rings«.

Perspektivwechsel

Eine neue Lesart des Südstaaten-Bestsellers von Margaret Mitchell aus dem Jahr 1936 bietet das Hörspiel »Vom Wind verweht. Die Prissy Edition« (Der Hörverlag, 490 Min., 30 Euro), inszeniert von Jörg Schlüter und Judith Lorentz. Nach wie vor spielt das Melodram zur Zeit des Amerikanischen Bürgerkriegs, aber auch in unserer Gegenwart der Kulturkämpfe, mit den Debatten um Rassismus und Diversität.

Die vormals eher komische Nebenfigur der Sklavin Prissy rückt ins Zentrum und sorgt für eine frische Perspektive auf die herrschende Gesellschaftsschicht der weißen Plantagenbesitzer, die um ihre Privilegien fürchten. Menschenhandel und Sklaverei geraten verstärkt in den Blick. Prissy, gesprochen von Lea Draeger, erscheint als eigensinnige Gegenfigur zur kühlen Heldin Scarlett O’Hara, der Lisa Hrdina die Stimme gibt.

Darüber hinaus verlegt die Co-Autorin Amina Eisner einen zusätzlichen Erzählstrang ins heutige Deutschland. Lawrence, ein Nachfahre Prissys, wurde dort als GI stationiert. Ron Williams spricht mit volltönender Stimme den schwarzen Ex-Soldaten, der ebenso wie seine beiden erwachsenen Enkeltöchter Diskriminierung erlebt. Auch wenn diese Szenen mitunter ein bisschen nach antirassistischem Schulfunk klingen – es ist eine interessante, hörenswerte Adaption.
 

Nautisch rau

Themen wie Kolonialismus, Sklaverei und Globalisierung hat früh der Schriftsteller Joseph Conrad ins Auge gefasst. Seine Romane umkreisen das Mysteriöse in einer unermüdlichen Bewegung. Es ist eine Kunst des »Delayed Decoding«, der verzögerten Entzifferung, besonders faszinierend in seinem Hauptwerk »Lord Jim«. Der Roman erschien im selben Jahr wie Freuds »Traumdeutung« und ist mit freudschen Obsessionen gesättigt – Verdrängung, Scham, Schuld, Traum. Mit der Fülle an Andeutung und Obskurität ist »Lord Jim« eine ideale Vorlage für das Hörbuch-Urgestein Christian Brückner, der damit eine der letzten großen Eigenproduktionen seines Parlando-Verlags liefert (Parlando bei Argon, 1 000 Min., 31,99 Euro).

Die Neuübersetzung des Seefahrer-Romans ist genauer, nautischer und rauer; sie verzichtet bewusst auf die sprachliche Eleganz früherer Übertragungen. In der Lesung des aufs Kantige spezialisierten Brückner aber klingt diese Ungeschmeidigkeit eindringlich und überzeugend. Nach wie vor hört es sich an, als wäre dieser Vorleser mit allen Abgründen der Welt vertraut, wie ein Jazzmusiker, der improvisieren kann, weil er alle seine Tricks und Licks souverän beherrscht. 

Obsessionen und Strapazen

Noch kantiger klingt Werner Herzog. Der legendäre Filmemacher ist auch ein grandioser Erzähler. Seine Erinnerungen »Jeder für sich und Gott gegen alle« ist ein großes Buch voller Geschichten und Geschichte.

Schon Herzogs Münchner Kinderbett wurde nur knapp vom niedergehenden Bombenschutt verschont. Gebannt lauscht man den plastischen Kindheits- und Jugend­szenen aus der Kriegs- und Nachkriegszeit, hört vom Schnorrer- und Hochstaplertum des Vaters und den archäologischen Expeditionen des Großvaters. Seit jeher haben Herzog die Obsessionen und Strapazen fasziniert, und auch seine Lesung hört sich an, als hätte er schwer zu tragen, lakonisch und altersrau. Das Vollmundige (»Ich halte das 20. Jahrhundert in seiner Gesamtheit für einen Fehler«) verbindet sich immer wieder mit dem Empfindsamen und zart Begeisterten, etwa im Lob auf die Frauen seines Lebens. Herzog hat einen hypnotischen Ton, ruhig, aber mit Unheil geladen, als verstecke sich in ihm ein Prophet aus biblischen Zeiten (Tacheles / Roof Music, ca. 900 Min., 26 Euro). 

Alle sind bedrohlich

Von leider sehr gegenwärtigem Unheil erzählt schließlich der im Donbass spielende Kriegsroman »Internat« des ukrainischen Friedenspreisträgers Serhij Zhadan. Im Zentrum steht kein patriotischer Held, sondern jemand, der sich lieber aus allem heraushalten würde: ein kurzsichtiger Lehrer mit Herzbeschwerden und einer verkrüppelten Hand. Als seine Stadt von Separatisten besetzt wird, macht er sich auf den Weg, um seinen Neffen aus dem Internat abzuholen. Die Menschen, denen er unterwegs begegnet und die mit ihm von einem Unterschlupf zum nächsten hasten, sind die Opfer eines Krieges, der wie ein metaphysisches Verhängnis über die Welt gekommen zu sein scheint. Wie in einem postapokalyptischen Film werden die Eindrücke der zerschossenen Stadt gezeigt: Die aufgerissenen Häuser haben ihren Inhalt erbrochen, Habseligkeiten liegen im dreckigen Winterschnee. Und plötzlich dröhnen in der Nähe schaurig die Panzermotoren. Oft weiß der Lehrer nicht, wen er gerade vor sich hat: Separatisten? Ukrainische Soldaten? Alle sind bedrohlich. Das Geschehen kennt keine Regeln, Schmerz und Tod lauern überall.

Der Schauspieler Frank Arnold verleiht jedem Satz des Romans Dringlichkeit und akustische Schärfe (Audiobuch / Steinbach sprechende Bücher, 689 Min., 20 Euro). Die Über-Wachheit, die der Lehrer braucht, um sich zwischen den ungewissen Frontlinien zu bewegen, bestimmt seine Lesung. In den Dialogen vermeidet Arnold den Konversationston friedlicher Zeiten. Die Menschen sprechen alarmiert, gereizt, panisch. Oder aber, sofern sie Waffen tragen, provozierend und bedrohlich. Das Buch ist im Original 2017 erschienen, während im Donbass bereits gekämpft wurde, ohne dass die Welt viel Notiz davon nehmen wollte.