Lehmstedt übergibt Sammlung an DNB

Mythen in Tüten

2. Februar 2021
Nils Kahlefendt

Kulturbeutel im Wandel der Zeiten: Die Buchtüten-Sammlung Lehmstedt geht ans Deutsche Buch- und Schriftenmuseum in Leipzig. Die schönsten, nicht selten kuriosen Objekte führt uns der Verleger in einem eben erschienenen Band vor.

Es mag wie ein Satz von Loriot klingen, stimmt aber doch: Die Tüte gilt als eines der ältesten Zeugnisse menschlicher Zivilisation. Die ersten Exemplare waren zu Spitztüten gedrehte Pflanzenblätter. Ganz am Ende der Verwertungskette, bei den Marktschreiern zu landen, trieb schon einen Heinrich Heine um. „Und... ach!“, seufzte er im Vorwort seiner Lutetia, „Mein Buch der Lieder wird dem Gewürzkrämer dazu dienen, Tüten zu drehen, in die er den armen, alten Frauen der Zukunft Kaffee und Tabak schütten wird.“

Mitte der 1960er Jahre, mit dem Siegeszug der Kunststoffe, hielten Papier- und Plastiktüten auch massenhaft im Buchhandel Einzug. Eigentlich simple Wegwerfprodukte – denen nun der Status von Kulturgut zuwächst. Der Verleger und Buchhistoriker Mark Lehmstedt hat ein Näschen dafür und begann vor rund 20 Jahren, Buchtüten zu sammeln – mit zunächst recht pragmatischem Ansatz: „Bei manchen Sammelobjekten braucht man sehr schnell ganze Lagerhallen. Buchtüten sind sehr flach – insofern war das ganz einfach. Und es kostete mich nichts!“ Auf Flohmärkten oder der Verkaufsplattform Ebay bietet sich inzwischen ein anderes Bild: Die einstigen Wegwerfartikel gehen richtig ins Geld.

Bei manchen Sammelobjekten braucht man sehr schnell ganze Lagerhallen. Buchtüten sind sehr flach – insofern war das ganz einfach. Und es kostete mich nichts!

Mark Lehmstedt

Archäologie der Gegenwart

Zu seinem runden Geburtstag am 11. Februar hat Lehmstedt sich selbst und uns nun gleich doppelt beschenkt: Seine mehr als 3000 Objekte umfassende Buchtüten-Sammlung findet eine neue Heimat unterm Dach des Deutschen Buch- und Schriftmuseums in der Deutschen Nationalbibliothek in Leipzig.

„Mit der Aufnahme in den Bestand bereichert die Sammlung die weltweit einzigartigen Bestände zur Schrift-, Papier-, Druck- und Buchgeschichte um eine ganz neue Facette. Damit wird zugleich eine Gattung geadelt, die sonst kaum Beachtung findet“, so ordnet Stephanie Jacobs, die Leiterin des Museums, den Neuzugang ein. Als Verbrauchsmaterial produziert, käme den Büchertüten erst mit zeitlicher Distanz der Status von Kulturgut zu. Was andere achtlos entsorgt und selbst die Hersteller niemals aufbewahrt haben, sei für eine Archäologie der Gegenwart von großem Interesse. Die Buchtüten erinnerten an längst verschollene Buchhandlungen und Verlage und seien nicht zuletzt wunderbare Zeugnisse der Designentwicklung und der Produktwerbung. „Die Wertschätzung der gewerblichen Produktion ist dem Deutschen Buch- und Schriftmuseum bereits in seine Gründungsgeschichte als Buchgewerbemuseum eingeschrieben“, betont Jacobs.

Die Buchtüte als Gradmesser der Branche

Passend zur Übergabe in die museale Herberge hat Lehmstedt im eigenen Verlag ein Buch veröffentlicht, das die nicht selten kuriosen Schätzchen aus Papier, Jute und Plastik mit dem Blick des Wissenschaftlers vermisst. Ein Ansatz, der fruchtbarer ist, als es das exzentrisch anmutende Hobby zunächst nahelegt: Die Buchtüte kann Gradmesser für den Zustand einer Branche sein und gesellschaftliche Trends wie die Erstarkung der Ökologiebewegung abbilden – das zeigt etwa der Aufstieg des Stoffbeutels. Auch die digitale Revolution wird Thema. Zu Beginn der Nullerjahre wird der Medienbruch auch an den Tüten sichtbar - zunächst durch nun inflationär aufgedruckte Internet-Adressen, später durch jede Menge Hashtags und Slogans wie „Ihr Klick bleibt in unserer Stadt“. Die Doppelfunktion der Tüte als Transportmittel und Werbeträger macht sie schließlich zum Objekt der Designgeschichte. 

Der Band „Buchtüten. Werbung für das Buch“ zeigt mit rund 550 Objekten annähernd ein Sechstel der in den Museumsbestand eingegangenen Sammlung. Dennoch begeistert er durch die verblüffende Vielfalt der vorgeführten Motive, Gestaltungen und Slogans. Aus heutiger Sicht wirken manche arg bräsig, auch wenn sich die Kreativen meist schwer ins Zeug legen. Bis heute unerreicht der kleine Ariadne Verlag mit dem feministischen Sponti-Spruch „Lesen statt Putzen!“. Lehmstedt ordnet seine Preziosen nach Design-Merkmalen, nimmt aber auch thematische und historische Aspekte in den Blick. So erfahren wir, dass der Versender Zweitausendeins Vorreiter in Sachen Tüten-Markenbildung war, was es mit den rätselhaften, seit Jahrzehnten fast unveränderten Lettern der Hugendubel-Tüte auf sich hat – und dass Behältnisse etwa von Kookbooks oder der Dresdner Buchhandlung „Büchers Best“ fast den Charakter kleiner Kunstwerke haben – Kulturbeutel im Wortsinn.

Zwar gab es auch in der DDR Plastebeutel, doch das Gros der zwischen Kap Arkona und Fichtelberg verwendeten Behältnisse war aus Papier. Joseph Beuys und Klaus Staeck deckten sich Ende der Siebziger kiloweise mit den volkseigenen Tüten ein – und adelten sie mit Stempel und Signatur zu Kunstwerken. „Bei den DDR-Tüten wurde die im Westen absolut dominierende Werbefunktion geradezu verweigert“, so Lehmstedt. „Da kam das Ganze auf schwerem, dickem Packpapier daher. Ich glaube, diese Ästhetik und diese Konsum-Verweigerung hat Leute wie Beuys und Staeck interessiert.“

Schon qua Beruf und Berufung glaubt Mark Lehmstedt an die Zukunft des gedruckten Wortes. Sollte die Zukunft des Lesens allerdings in der digitalen Welt liegen, wie es uns Amazon & Co. schon lange predigen – dann könnten die Buchtüten seiner Sammlung bald die letzten Vertreter ihrer Art sein.

 

Mark Lehmstedt: "Buchtüten. Werbung für das Buch". Lehmstedt Verlag, 120 Seiten, 20 Euro.