"Wie wollen wir leben?" (5)

"Männer sollten ihre Erwerbsarbeit reduzieren"

26. Januar 2021
Redaktion Börsenblatt

Nach den Erfahrungen der vergangenen Monate ist die Frage "Wie wollen wir leben?" drängender denn je. Welche Denkanstöße dazu in Frühjahrsnovitäten zu finden sind, zeigen wir in einer Folge, die auch Anregung für einen Büchertisch sein kann. Die heutige Antwort kommt von der Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung, Jutta Allmendinger (Ullstein).

Der folgende Textauszug stammt aus Jutta Allmendingers Streitschrift "Es geht nur gemeinsam!", die am 12. Januar bei Ullstein erschienen ist.

"[...] Noch kann ich nicht sagen, ob sich die Dynamik des Oktobers 2020 halten wird. Der Anfang aber ist gemacht, vier klar umrissene Ziele sind definiert. Mein Fahrplan steht. Gemeinsam müssen Frauen, müssen Frauen und Männer, die Gleichstellung entschlossen vorantreiben. Es geht nur gemeinsam. Unsere Kinder und Enkelkinder sollten nicht noch einmal hundert Jahre warten müssen. Wir müssen handeln, und zwar jetzt.

Ziel 1: Die Entwicklung einer klaren familien- und arbeitsmarktpolitischen Ausrichtung

[...] 

Ziel 2: Angleichung der bezahlten und unbezahlten Arbeit zwischen Frauen und Männern

Die ungleiche Arbeitszeit von Männern und Frauen ist einer der maßgeblichen Gründe, warum Frauen ein geringeres Monats-, Jahres- und Lebenseinkommen haben als Männer und somit auch eine wesentlich geringere Altersrente. Daran ändert auch die rentenwirksame Anrechnung von Erziehungszeiten wenig. Niedrige Arbeitszeiten laufen selten auf Führungspositionen hinaus, sie zementieren zudem den hohen Gender Care Gap.  [...]

Eine höhere Geschlechtergerechtigkeit kann durch ganz unterschiedliche Maßnahmen erzielt werden. Voraussetzung ist jeweils ein umfassender Ausbau einer qualitativ hochwertigen Betreuung von Kindern und Jugendlichen in Kitas und Ganztagsschulen. Nur dann können alle Frauen, also auch Mütter, ihre Erwerbsarbeit von Teilzeit auf ununterbrochene Vollzeit aufstocken, ihre Erwerbsverläufe also an die der Männer anpassen. Der andere und aus meiner Sicht bessere Weg besteht darin, dass Männer ihre Erwerbsarbeit reduzieren und damit endlich einen aktiven Schritt auf die Frauen zu machen. Ziel ist eine etwa 32-Stunden-Woche für alle, berechnet als Schnitt über den gesamten Lebensverlauf, mit Phasen niedrigerer oder höherer Arbeitszeit. Eine entsprechende Arbeitszeit kann in einer Vier-TageWoche umgesetzt werden, mit einem freien Wochentag für beide Elternteile oder einer geringeren Arbeitszeit verteilt über alle Wochentage. Früh habe ich mich für dieses Modell ausgesprochen. Gerade die Monate der Pandemie haben (wieder) gezeigt, dass viele Menschen dieses Modell wünschen und die Entschleunigung eines überladenen Lebens fordern. Zudem wurde während des Lockdowns auch deutlich, dass insbesondere die Abwesenheit der Mütter dazu führt, dass die Väter mehr anpacken und sich der Gender Care Gap etwas reduziert. In der Pandemie waren es die systemrelevanten Tätigkeiten, die Frauen davor schützten, noch mehr Care-Arbeit zu leisten. Wir müssen diese Erkenntnis nutzen und in eine neue Normalität übersetzen, unabhängig von bestimmten Tätigkeiten.

Wie auch immer die Politik entscheidet  – im Kern muss es um eine Umverteilung der Care-Arbeit zwischen Frauen und Männern gehen. So fordert der Zweite Gleichstellungsbericht der Bundesregierung eine zweiwöchige »Vaterschaftsfreistellung« nach der Geburt des Kindes, um die frühe Bindung zwischen Vater und Kind zu unterstützen. Ebenso sollte der Schlüssel der Erziehungsmonate geändert werden. Statt der zwei Elternmonate, die zusätzlich zu den zwölf garantierten Elternmonaten nur dann gewährt werden, wenn sie von dem jeweils anderen Elternteil in Anspruch genommen werden (das sind fast immer die Väter), sollte man auf einen Schlüssel von acht zu vier Monaten umsteigen. Hierdurch könnte die Zeitspanne verringert werden, in der Mütter ihre Erwerbsarbeit unterbrechen. Unterstützen könnte man das höhere Engagement der Väter durch gezielte Kampagnen, wie wir sie etwa aus Schweden kennen und mit denen Stereotypisierungen abgebaut werden. Dort nehmen Väter zwischen sechs und neun Monaten Elternzeit und sind beliebte Werbeträger auf vielen Plakatwänden und in Schulbüchern.

Betriebe setzen bei ihren Maßnahmen zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie meist auf flexible Arbeitszeiten, Homeoffice und temporäre Freistellungen, oft begleitet von sogenannten mummy tracks. Darunter versteht man Karrierewege, die höchstens bis in mittlere Führungspositionen führen und dabei auf die Bedarfe insbesondere von Müttern Rücksicht nehmen. Diese Formen der Vereinbarkeit sind kurzfristig hilfreich, aber wenig zielführend, wenn es um die Chancengleichheit von Frauen und Männern geht. Gehobene Führungspositionen erreicht man so jedenfalls nicht. Vereinbarkeit und Gleichstellung müssen miteinander verbunden werden. Werden diese Maßnahmen zügig umgesetzt, wird meine Enkeltochter Marie das Vergnügen haben, früh in ihrem Leben einige Monate mit ihrer Mutter, andere mit ihrem Vater verbringen zu können. Dank der Vaterschaftsfreistellung kann ihr Vater schon in den allerersten Lebenstagen bei ihr sein. Später teilen sich ihre Eltern ganz selbstverständlich die Elternzeit, ihre Mutter muss da gar nicht viel einfordern, die institutionellen Regelungen sind ganz klar, da gibt es keine Diskussionen. Und auch später sieht Marie ihre Eltern regelmäßig, beide. Mein Sohn setzt seine Vorstellungen um, arbeitet an vier Tagen in der Woche. Anders als sein Vater muss er deshalb keine Konflikte am Arbeitsplatz austragen. Es wird ihm auch nicht gesagt, dass seine Karriere dadurch Schaden erleiden werde. Marie wird in einer Welt anderer Selbstverständlichkeiten aufwachsen, für Frauen wie für Männer.

Ziel 3: Gleicher Lohn für vergleichbare Erwerbsarbeit  [...]"