Kolumne

Junge Leute lesen nicht mehr?!

26. Januar 2022
Franziska Werum

Diesen Vorwurf hört Franziska Werum ausgesprochen oft. In ihrer Kolumne erklärt sie, was sie an der Behauptung, junge Leute lesen nicht mehr, stört. Sie schreibt eine Brandrede für die Leser:innen ihrer Generation, die sich heute vorwiegend in digitalen Räumen austauschen – ganz zum Unverständnis ihres enttäuschten Onkels.

Die Weihnachtstage haben wir gerade erst hinter uns gebracht. Bei Tisch bin ich die Person mit dem offensichtlichsten Hang zu Literatur und Buchbranche. Deswegen spricht mich mein Onkel natürlich pikiert darauf an (die Büchermenschen wissen, wovon ich rede) und fragt: „Die jungen Leute, die lesen gar nicht mehr, oder? Sehr schade. Wirklich sehr schade.“ Tja. So steht das dann im Raum. Nichts gegen diesen Onkel, der in diesem Fall ganz sicher keine KIM- oder JIM-Studie zur Lektüre und auch keine greifbaren Argumente für seine These zur Hand hatte. Das war einfach so sein Gefühl. Ich wurde – da bin ich ehrlich – ganz unerwartet wütend. Das bekommt man in meiner Generation sehr oft und außergewöhnlich unreflektiert vor die Füße geworfen. Die jungen Leute lesen nicht mehr. Dabei gilt es, für diese Art der Aussage einige Dinge auseinander zu dividieren: Die jungen Leute zum Ersten, ihr Leseverhalten zum Zweiten und die Auffassung der vorgeworfenen Lesemissachtung zum Letzten.

Das bekommt man in meiner Generation sehr oft und außergewöhnlich unreflektiert vor die Füße geworfen: ‚Die jungen Leute lesen nicht mehr.

Wer sind diese jungen Menschen, von denen mein Onkel derart enttäuscht ist, dass er sich Rat und einen Frustablass von seiner Nichte erwartet? Wahrscheinlich meint er die, die seiner Meinung nach nur noch am Smartphone hängen, Serien bingen, wenig das Haus verlassen und nicht mehr auf Bäume klettern. Das klingt jetzt zynisch. So ist es auch gemeint. Man zeige mir einen Teenager (egal welcher Generation), der nicht gegen die Sitten seiner Eltern rebellierte. Natürlich bedeutet das, eben das peinlich zu finden, wozu die Eltern animieren. Ich bin mir absolut sicher, dass er niemals auf diese idealisierten Bäume geklettert wäre, hätte sein Vater ihm immer davon vorgeschwärmt. Überhaupt, was ist das für ein Gedanke? Was kann denn ein Baum so Besonderes, Wesensformendes?

Die aktuelle, junge Generation hat wirklich größere Probleme. Noch dazu führt sie ein komplett anderes Leben, das sich kaum mit der Jugend eines Mittfünfzigers vergleichen lässt. Diese Generation geht für den globalen Umweltschutz auf die Straßen, muss mit den unmittelbaren Konsequenzen ihrer Vorgänger umgehen lernen, sich durch eine Pandemie kämpfen, mit einer Mehrzahl von Medien umgehen lernen, muss sich selbst individuell entfalten und sowohl nützlich für das Gemeinwohl als auch bescheiden bleiben. Und ganz nebenbei entwickeln sie dabei eine unwahrscheinlich detaillierte Medienkompetenz, indem sie sich in digitalen Räumen so selbstverständlich bewegen wie kaum jemand vor ihnen.

Sie kennen sich häufig mit digitalem Wohlbefinden, mentaler Gesundheit und menschlichen Abgründen besser aus als mein enttäuschter Onkel. Ja, sie vernetzen sich auf TikTok, auf Instagram, auf YouTube. Und dabei kommunizieren sie oftmals ganz bewusst, offensiv und lernen Selbstbewusstsein, Kreativität und umfassenden Input zu verarbeiten. Sie schaffen sich einen eigenen Raum, in dem sie unabhängig von den älteren, den langsameren Erwachsenen digital aufblühen können. Und das ist nur ein kurzer Rundumschlag der vielen positiven Entwicklungen der jungen, vermeintlich lesescheuen Generation.

Warum überhaupt lesescheu? Eher lesefaul, würde der Onkel jetzt einwerfen. Das sehe ich anders. Heutzutage vernetzt man sich, wie oben angedeutet, online. Gerade junge Communities wie BookTok, Bookstagram und BookTube sind exzellente Beispiele dafür, was für eine Rolle das Lesen für viele Jugendliche und junge Erwachsene einnimmt. Sie gründen in exponentiellem Wachstum Online-Buchclubs, veranstalten sogenannte Buddy-Reads mit Freunden oder solchen, die es über Social Media Plattformen rasch werden.

Wir sind schon lange aus dem Zeitalter ausgestiegen, in dem jeder, der sich dort herumtreibt, mit Argwohn betrachtet werden sollte. Im Gegenteil ergibt sich darin eine ganz neue Peer-Group: Junge Leute, die im eigenen Freundeskreis niemanden haben, der genauso gerne liest wie sie selbst, werden online zügig fündig. Hilfreich sind dabei engagierte Buchhändler:innen, die über die eigenen Kanäle ein gemeinsam zu lesendes Buch bestimmen und es unter einem Posting oder in einer Live-Schalte zur Diskussion freigeben. Außerdem eigenständige Leser:innen-Plattformen, wie LovelyBooks. Bloggerinnen und Blogger. Der Online-Feuilleton. Sämtliche Diskussionsangebote und Räumlichkeiten, die heute nicht mehr vor Ort sein müssen – all das ist das Resultat einer begeisterten Leser:innenschaft, einer Community, die sich laut und eifrig für das Buch begeistert.

Sämtliche Diskussionsangebote und Räumlichkeiten, die heute nicht mehr vor Ort sein müssen – all das ist das Resultat einer begeisterten Leser:innenschaft, die sich laut und eifrig für das Buch begeistert.

Warum negiert mein Onkel dann all diese begeisterten jungen Menschen? Vielleicht, weil er in der Buchhandlung nur noch älteren Herrschaften begegnet. Weil er online nicht stattfindet. Weil er Zahlen sieht, dass es immer weniger Buchkäufer:innen gibt. Und das stimmt, zumindest die zurückgehenden Käufer:innenzahlen. Aber dafür, dass sie mit viel mehr Konkurrenzangeboten konfrontiert sind, die alle gleichzeitig und eindringlich um ihre Aufmerksamkeit buhlen, ist das Lesen immer noch ein wertvoller Bestandteil ihrer Freizeit. Vor allem dafür, dass jungen Menschen gerade und in Zukunft mit ziemlich viel umgehen lernen müssen und unsere Elterngeneration gerade mal frech auf Bäume klettern musste, um rebellisch zu sein, dafür sind junge Leser:innen immer noch ziemlich präsent.

Sie sind anders. Sie nutzen das Lesen als Rückzug von den irre lauten Online-Plattformen, die beständig zum Konsum anregen. Sie lassen sich online zu neuer Lektüre beraten, kaufen häufiger online, lesen online, rezensieren online, diskutieren online, vernetzen sich online. Womöglich ist es einfach an der Zeit, dass mein Onkel versteht, dass nicht die lesebegeisterten Jugendlichen aussterben. Sondern seine irgendwie beschränkte Art, Lesen zu definieren.

Noch ein Schmankerl: Auf die Frage, was er denn zuletzt gelesen hätte, antwortete er, dass er schon ewig nichts Gutes mehr gefunden hätte, und dass er vom Buchangebot aktuell arg enttäuscht sei. Nunja. Manchmal verschließt man auch kategorisch die Augen vor allem Guten auf der Welt.

Junge Leute nutzen das Lesen als Rückzug von den irre lauten Online-Plattformen, die beständig zum Konsum anregen.

Unsere Kolumnistin

Franziska Werum (23) lebt und studiert Buchwissenschaften in Mainz. Neben dem Studium arbeitet sie seit zwei Jahren im Bereich Marketing und Social Media bei MVB und schreibt unabhängig davon Rezensionen im Netz unter @wortesammlerin. Im Börsenblatt schreibt sie aus der Sicht der Young Professionals über die digitale Welt in der Branche, was ihr fehlt und was sie hat, über die Debattenkultur im Netz und Veränderungen, die unser Miteinander prägen.