Henning Boëtius ist in der Bandbreite und Eigenwilligkeit seines Schaffens ein Solitär in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Er war ein Universaltalent, Goldschmied, begnadeter (Blues-)Musiker und Autor zugleich, und ein Universalgelehrter, der in der Literatur, Kulturgeschichte und Philosophie ebenso zuhause war wie in der Mathematik und den Naturwissenschaften.
Bekannt wurde er mit seinen Romanbiographien von Autoren wie Johann Christian Günther, J. M. R. Lenz, Georg Christoph Lichtenberg, Clemens Brentano und Arthur Rimbaud und mit den Romanen um den holländischen Kommissar Piet Hieronymus, einer eigenwilligen Gegenfigur zum Typus des Sherlock-Holmes-artigen Ermittlers, der jeden Fall mit strikter, zielgerichteter Logik löst. Piet Hieronymus dagegen setzt auf „den naiven Kinderblick auf die Verhältnisse“, wie es an einer Stelle in „Joiken“ heißt, auf das absichtslose Eintauchen in einen Fall und das Sich-Treiben-Lassen, bis einem die Aufklärung des Verbrechens intuitiv vor Augen steht: „Denk nicht nach, grübel nicht, sieh dich einfach um. Weißt du, wie man die größten Pilze findet? Indem man geistig weggetreten ist, indem man wie ein Halbblinder durch den Wald stolpert“ („Der Walmann“).
Hennings erfolgreichstes Buch war „Phönix aus Asche“, ein Roman, der auf langen Gesprächen mit seinem Vater Eduard Boëtius beruht, der im Mai 1937 auf der Unglücksfahrt des Luftschiffs „Hindenburg“ als Dritter Offizier an Bord war und die Explosion des Zeppelins bei der Landung im amerikanischen Lakehurst wie durch ein Wunder überlebte. Der SPIEGEL schrieb damals über das Buch, das unter anderem auch in Frankreich, England und den USA erschien: „Penibel recherchiert, erinnert es in seiner Intensität an Michael Ondaatjes ‚Englischen Patienten‘“, und er lobte unter anderem die „Sprache, die dem eleganten Gleiten der Luftschiffe ähnelt“, und die „präzise Phantasie“, mit der Henning Boëtius „die Welt der fliegenden Schiffe und das schaurige Ende ihrer Ära“ schildere.
Sein bedeutendstes Buch aber ist für mich der fast tausendseitige Roman „Der Insulaner“ (2017), an dem Henning gute zehn Jahre arbeitete und der nach „Phönix aus Asche“ und „Der Strandläufer“ den Abschluss einer (semi-)autobiographischen Trilogie darstellt. 2020 erschien der Roman „Der weiße Abgrund“ über die letzten Jahre und das Sterben Heinrich Heines; die Publikation seines letzten Werkes, des Romans „Das chinesische Zimmer“, des letzten Bandes seiner Reihe um den niederländischen Kommissar, Piet Hieronymus, soll er jetzt um wenige Wochen leider nicht mehr erleben.